Der gruene Heinrich [Zweite Fassung]
Mitte des Zimmers auf ein Tischchen und stellte sie ins Licht. Ein helleres Licht ging aber trotz dem geräucherten Zustande von dem Bilde aus, in welchem das Leben im goldenen Zirkel von Verteidigung und Angriff sich selbst erhielt.
Von der erhobenen Faust des linken Armes über die Schultern weg bis zur gesenkten des rechten, von der Stirn bis zur Zehe, dem Nacken bis zur Ferse wallte von Muskel zu Muskel, von Form zu Form die Bewegung, der Schritt aus der Not zum Siege oder zum rühmlichen Untergange. Und welche Formen in ihrer Verschiedenheit! Alle diese Organe glichen einer kleinen Republik von Wehrmännern, welche von einem Willen beseelt vorandrangen, um ihren Verband gegen die Zerstörung zu schützen.
Unversehens suchte ich einen reinen Bogen Papier, spitzte einen Kohlenstengel sorgfältig zu und begann mich in den Umrissen dieses und jenes Gliedes zu versuchen, dann, als hiemit nicht viel herauskommen wollte, den linken Arm bis in die Achselhöhle und die von da fortlaufende Bewegung bis in die linke Weichengegend in ganzer Form rasch zu packen; aber die Hand war ungeübt hiefür, und erst als die Kohle sich etwas abgestumpft hatte, wollte der Strich von selbst leibhafter werden und ein gewisses Leben in die Finger fahren. Aber nun war das Auge nicht gewöhnt, angesichts der menschlichen Gestalt der Hand rasch genug vorzuleuchten; ich mußte aufstehen und die Begrenzungen und Übergänge genauer untersuchen und, weil ich doch schon zu alt war, in einsichtsloser Art fortzufahren, über die Dinge und ihren Zusammenhang nachdenken.
So brachte ich in ein paar Tagen die ganze Figur leidlich zustande, drehte sie und bezwang sie auch von den übrigen Seiten. Da fiel mir plötzlich ein, sie in Gedanken aufzurichten und den Fechter in ruhender Stellung zu zeichnen, gleichsam als Probe der erworbenen Kenntnis. An dem anatomisch gut gearbeiteten Vorbilde hatte ich wohl gesehen, was als Knochen oder Muskel, Sehne oder Gefäß sich darstellte; als es nun aber galt, alles dies in seine veränderte Lage und Form zu bringen, mangelte mir jeder bestimmte Einblick in den Zusammenhang dessen, was unter der Haut ist und vor sich geht, und da es sich nicht um eine unklare freche Skizzierung handeln konnte, die hier keinen Zweck gehabt hätte, so sah ich mich genötigt, den Stift wegzulegen.
Das begab sich in einem Augenblicke, wo ich schon so manches Jahr der Kunst beflissen gewesen und einem ersten Abschluß zusteuern sollte. Ich hätte diesen Erfolg genau voraussehen können, eh ich den Stift angesetzt, und wie ich nun, die Hände im Schoß, über meine Torheit nachsann, wunderte ich mich darüber, daß ich einst nicht die Darstellung des Menschen zum Berufe gewählt hatte anstatt seines bloßen landschaftlichen Wohn-und Schauplatzes. Und als ich über diese unheimliche Zufälligkeit weiter nachdachte, verwunderte ich mich aufs neue, wie es überhaupt möglich gewesen sei, daß ich, noch in den Kinderschuhen stehend, meinen unberatenen Willen so leicht habe durchsetzen können in einer das ganze lange Leben bestimmenden Sache. Ich war noch nicht über die Jugendidee hinaus, daß eine solche Selbstbestimmung im zartesten Alter das Rühmlichste sei, was es geben könne; allein es begann mir jetzt doch unerwartet die Einsicht aufzugehen, das Ringen mit einem streng bedächtigen Vater, der über die Schwelle des Hauses hinauszublicken vermag, sei ein besseres Stahlbad für die jugendliche Werdekraft als unbewehrte Mutterliebe. Zum ersten Male meines Erinnerns ward ich dieses Gefühles der Vaterlosigkeit deutlicher inne, und es wallte mir augenblicklich heiß bis unter die Haarwurzeln hinauf, als ich mir rasch vergegenwärtigte, wie ich durch das Leben des Vaters der frühen Freiheit beraubt, vielleicht gewaltsamer Zucht unterworfen, aber dafür auch auf gesicherte Wege geführt worden wäre. Indem ich bei dieser Vorstellung von Sehnsucht und Widerspruch, von einem mir unbekannten, aber süßen Gefühle des Gehorsams und trotziger Freiheitslust gleichzeitig erglühte, suchte ich die mir fast gänzlich verwischte Gestalt heraufzuführen, vermochte es aber im Wogen der Gedanken zuletzt nur durch das Auge der Mutter, wie sie den Abgeschiedenen im Traume gesehen.
Im Verlaufe der Zeit hatte sie nämlich wiederholt, aber immer nur nach jahrelangen Unterbrechungen, vom Vater geträumt, vielleicht zwei oder drei Male, gleichsam zum Wahrzeichen, wie selten solche geheimnisvolle Lichtblicke tiefsten Glückes uns vergönnt sind.
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