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Der gruene Heinrich [Zweite Fassung]

Der gruene Heinrich [Zweite Fassung]

Titel: Der gruene Heinrich [Zweite Fassung] Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gottfried Keller
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Jedesmal aber hatte sie am Morgen das Begebnis, das nach langem Ausbleiben so unerwartet gekommen, mit dankbarer Freude erzählt und die Art und Weise der Erscheinung beschrieben.
    So war es ihr einst im Schlafe, als ergehe sie sich an einem Sonntage mit dem verstorbenen Gatten im Freien wie ehmals; aber sie fand ihn doch nicht sich zur Seite, sondern sah ihn plötzlich aus der Ferne herkommen auf einer unabsehbaren Feldstraße. Er war sonntäglich fein gekleidet, trug aber ein schweres Felleisen auf dem Rücken; in der Nähe angelangt, stand er still, nahm den Hut vom Kopfe und wischte den Schweiß von der Stirne; dann winkte er liebevoll gegen die Mutter und sagte mit wohltönender Stimme: »Es ist weit, weit zu gehen!« worauf er an seinem Stabe rüstig weiterwanderte, bis er ihren Augen entschwand. Dieses Gesicht, welches ihr statt eines Ausruhenden einen mit belastetem Rücken in unendliche Fernen Dahinziehenden gezeigt, hatte die Mutter bei näherm Nachdenken traurig gemacht, da sie ohne Aberglauben oder Traumdeuterei doch die Empfindung oder Vorstellung von einer großen Mühsal erlitt, in welcher sich der Abgeschiedene bewege. Mir hingegen erweckte jetzt das Gedenken dieses unverdrossenen Wanderns des freundlichen Geistes durch die unbekannte Ewigkeit eher das vorbildliche Anschauen eines nicht zu brechenden Lebensmutes, des rastlosen Verfolgens eines Zieles. Ich sah den Mann selbst dahinschreiten und mir zuwinken, und als das Bild allmählich sich von der Tafel der Erinnerung löste und verschwand, sagte ich mir entschlossen: Was kann es helfen! Du darfst nicht länger säumen und mußt die fehlende Kenntnis nachholen!
    Ich nahm mir also vor, mich unverweilt an das Studium der Anatomie zu machen, soweit dieselbe wenigstens zu Verständnis und Darstellung der menschlichen Gestalt unentbehrlich ist; und da die öffentliche Kunstschule zwar etwelche unvollkommene Gelegenheit hiefür bot, ich aber nicht zu ihren Angehörigen zählte, so suchte ich sofort einen jener Studierenden auf, die mir in dem unsinnigen Duellhandel mit Ferdinand Lys beigestanden. Es war ein der Medizin Beflissener, dem Ende seiner Studienzeit entgegengehend und fast nur noch in den Krankensälen sowie an den Operationstischen tätig. Sogleich bereit, mir seine anatomischen Atlanten und Bücher zu leihen und mich vorderhand in ein Hörzimmer der Knochenlehre zu führen, riet er mir jedoch nach einigem Besinnen, mit ihm die soeben beginnenden Vorträge über Anthropologie zu besuchen, die von einem vortrefflichen Lehrer gehalten würden. Er selbst, bemerkte er, gehe hin, nicht um der längst zurückgelegten Lehrstufe willen, sondern wegen der ausgezeichneten Form und des geistigen Gehaltes jener Vorlesungen, welche an sich ein lehrreicher Genuß seien.
    Übrigens, wie der Anatom ein rückwärtsgehender, sozusagen abtragender Bildhauer zu nennen sei, so gehe der bildende Künstler am besten auf dem entgegengesetzten Wege nicht nur von dem Knochengerüste, sondern von der allgemeinen Anschauung des Organischen und seines Werdens aus, und habe er den Einzug der Sinne in das Gezelt der ehrlichen Menschenhaut mit angesehen, so werde er zwar hiedurch kein Michelangelo werden, wenn es nicht sonst in ihm stecke, aber es könne andere, jetzt verlorengegangene Fakultäten vergangener Zeiten ersetzen.
    Ich sah den kundigen Landsmann nun erst recht an und glaubte kaum, daß der Sprecher der gleiche sei, der mir vor Wochen so bereitwillig ein Loch in die Haut eines Menschen wollte stechen helfen. Wenn junge Leute, die sich bei leichtsinnigem Treiben befreundet, nachher ernstere Eigenschaften aneinander entdecken, so gereicht ihnen das immer zur Genugtuung, welche gern einem entschiedenen Einflusse stattgibt. Ich zögerte daher nicht, dem Ratgeber zu folgen, und betrat mit ihm das weitläufige Universitätsgebäude, auf dessen Treppen und Flüren die eigentliche Staatsjugend der verschiedensten Länder durcheinanderströmte. In dem betreffenden Hörsaale waren die Bänke noch leer. Die kahle Wand, die schwarze Tafel an derselben, die zerschnittenen und beklecksten Tische, alles erinnerte mich beinahe beklemmend an die Schulstube, die ich seit so vielen Jahren schon nicht mehr gesehen. Das unterbrochene Lernen fiel mir aufs Herz und machte mir zu Mut, als ob ich, auf einer dieser Bänke sitzend, plötzlich aufgerufen und beschämt werden könnte; denn ich dachte nicht daran, daß hier jeder in vollkommener Freiheit lebe für eine Spanne Zeit, keiner auf

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