Der Hase mit den Bernsteinaugen
hatte sein Gegenstück in Wien, das riesige Palais Ephrussi an der Ringstraße. Das Pariser wie das Wiener Gebäude besitzen beide eine gewisse Theatralik, ein der Welt zugewandtes Gesicht. Sie wurden beide 1871 in neuen, schicken Bezirken erbaut: Die Rue de Monceau und die Ringstraße waren beide damals so sehr der letzte Schrei, dass sie noch unvollendet waren, wüste, geräuschvolle, staubige Bauplätze. Räume, die dabei waren, sich selbst zu erfinden, in Konkurrenz zu den älteren Stadtvierteln mit ihren engeren Straßen, auf brüske Art neureich.
Wenn dieses besondere Haus in dieser besonderen Straßenlandschaft ein wenig bühnenhaft wirkt, dann war das beabsichtigt. Diese Häuser in Paris und Wien gehörten zu einem Familienplan: Die Familie Ephrussi ging nach dem Rothschild-Muster vor. So wie die Rothschilds ihre Söhne und Töchter zu Beginn des 19. Jahrhunderts von Frankfurt ausgesandt hatten, um die europäischen Hauptstädte zu kolonisieren, so hatte der Abraham meiner Familie, Charles Joachim Ephrussi, in den 1850er Jahren diese Expansion von Odessa aus in die Wege geleitet. Ein echter Patriarch, hatte er zwei Söhne aus seiner ersten Ehe, Ignaz und Leon, und als er mit fünfzig Jahren noch einmal heiratete, bekam er weitere Kinder: weitere zwei Söhne, Michel und Maurice, und zwei Töchter, Therese und Marie. Alle sechs Kinder sollten als Financiers tätig sein oder in geeignete jüdische Dynastien einheiraten.
Die Stadt Odessa lag im Ansiedlungsrayon, jener Gegend an der Westgrenze des Zarenreichs, wo Juden sich niederlassen durften. Sie war berühmt wegen ihrer rabbinischen Schulen und ihrer Synagogen, reich an Literatur und Musik, ein Anziehungspunkt für die verelendeten jüdischen galizischen Schtetl. Odessa war auch eine Stadt, in der sich die Zahl der Juden, Griechen und Russen in jedem Jahrzehnt verdoppelte, eine vielsprachige Stadt voller Spekulanten und Kaufleute, im Hafen wimmelte es von Intriganten und Spionen: eine Stadt im Aufbruch. Charles Joachim Ephrussi hatte durch Weizenaufkäufe in großem Maßstab aus einem kleinen Getreidehandel ein riesiges Unternehmen gemacht. Er kaufte das Getreide bei Mittelsmännern, die es auf Karren über zerfurchte Feldwege von der fetten schwarzen Erde der ukrainischen Weizenfelder, der größten der Welt, in den Hafen von Odessa transportierten. Hier wurde das Korn in Speichern gelagert und dann über das Schwarze Meer die Donau hinauf oder über das Mittelmeer weiterverschifft.
1860 war die Familie zum größten Getreideexporteur der Welt aufgestiegen. In Paris kannte man James de Rothschild als le Roi des juifs, den König der Juden. Die Ephrussi waren les Rois du Ble, die Weizenkönige. Diese Juden besaßen ihr eigenes Wappen: eine Ähre und ein heraldisches Boot mit drei Masten und geblähten Segeln. Darunter entrollte sich ihr Motto, Quod Honestum: Wir sind über jeden Verdacht erhaben. Sie können uns trauen.
Der Masterplan bestand darin, auf diesem Netzwerk aufzubauen und gigantische Projekte zu finanzieren: Brücken über die Donau, Eisenbahnlinien durch Russland und Frankreich, Hafenanlagen, Kanäle. Ephrussi et Cie wandelte sich von einem sehr erfolgreichen Handels- zu einem internationalen Finanzunternehmen. Daraus wurde eine Bank. Und jedes vorteilhafte Abkommen mit einer Regierung, jedes Risikoprojekt mit einem verarmten Erzherzog, jeder Kunde, den man sich verpflichtete, bedeutete einen Schritt zu noch größerer Seriosität, einen Schritt weg von den Ochsenkarren voller Weizen, die knarrend aus der Ukraine angerollt kamen.
1857 wurden die beiden älteren Söhne samt ihren Familien von Odessa nach Wien entsandt, der Hauptstadt des ausgedehnten Habsburgerreichs. Sie kauften ein riesiges Haus im Stadtzentrum, das nun die nächsten zehn Jahre lang einer wechselnden Population aus Großeltern, Kindern und Enkeln ein Heim bot, während die Familie zwischen den zwei Städten hin und her pendelte. Einer der Söhne, mein Ururgroßvater Ignaz, bekam die Aufgabe übertragen, die Geschäfte der Ephrussi in Österreich-Ungarn von Wien aus zu leiten. Dann kam Paris an die Reihe: Leon, der ältere Sohn, sollte Familie und Unternehmen dort etablieren.
Ich stehe vor Leons Außenposten auf einem honigfarbenen Hügel im achten Arrondissement. Eigentlich lehne ich am Haus gegenüber und denke an den glühheißen Sommer von 1871, als sie aus Wien eintrafen und in dieses neuerbaute goldgelbe Haus zogen. Die Stadt litt noch unter einem Trauma. Die
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