Der Hase mit den Bernsteinaugen
vergleichen. Es war ein so grandios-exzessives Gebäude, garniert mit so eklektischen Verzierungen, die man über die hohen Mauern hinweg erspähte, dass Zolas Beschreibung, es sei ein »opulenter Bastard aus allen Stilen«, heute noch treffend scheint. In Zolas 1872 erschienenem düsterem Roman »La Curee« (Die Beute) lebt Saccard, ein habgieriger jüdischer Immobilienmagnat, hier in der Rue de Monceau. Man spürt die Straße, als die Familie hierherzieht: Es ist eine Straße der Juden, eine Straße voller Menschen, die sich in ihren verschwenderisch goldstrotzenden Häusern zur Schau stellen. Monceau ist ein Pariser Slangausdruck für neureich, Emporkömmling.
Das ist die Welt, in der sich meine Netsuke zunächst niederließen. In dieser abfallenden Straße fühle ich das Changieren zwischen Diskretion und Opulenz, eine Art Einatmen-Ausatmen von Unsichtbarkeit zu Sichtbarkeit.
Charles Ephrussi war einundzwanzig, als er hier einzog. In Paris pflanzte man Bäume, breite Bürgersteige ersetzten die beengten Durchgänge der alten Stadt. Seit fünfzehn Jahren wurde unter der Leitung des Stadtplaners Baron Haussmann abgerissen und neu gebaut. Er hatte die mittelalterlichen Viertel demolieren lassen und Parks und Boulevards geschaffen. Mit rasanter Geschwindigkeit wurden neue Schneisen angelegt.
Wenn man diesen Moment spüren will, den Staub schmecken, der über den frisch gepflasterten Avenuen und über den Brücken wabert, dann sollte man sich zwei Gemälde von Gustave Caillebotte ansehen. Caillebotte, einige Monate älter als Charles, wohnte in unmittelbarer Nähe der Ephrussi, ebenfalls in einem großen Hotel. Auf seinem Bild »Le Pont de l’Europe« sieht man einen jungen, gutgekleideten Mann in grauem Überzieher und schwarzem Zylinder, vielleicht der Künstler selbst, auf dem großzügig angelegten Trottoir die Brücke überqueren. Er geht zwei Schritte vor einer jungen Frau im dezent gerüschten Kleid, die einen Sonnenschirm hält. Die Sonne scheint. Der frisch behauene Stein schimmert. Ein Hund schnürt vorüber. Ein Arbeiter lehnt sich über das Brückengeländer. Es ist wie der Anfang der Welt: eine Litanei vollkommener Bewegungen und Schatten. Alle, auch der Hund, wissen, was sie tun.
Die Straßen von Paris wirken gelassen: Makellose Steinfassaden, rhythmisch angeordnete Balkone, frisch gepflanzte Linden sieht man in seinem Gemälde »Jeune homme á sa fenetre«, das in der zweiten Impressionistenausstellung 1876 gezeigt wurde. Hier steht Caillebottes Bruder am offenen Fenster der Familienwohnung und blickt auf die Kreuzung der Straßen neben der Rue de Monceau. Die Hände in den Taschen steht er da, gut angezogen und selbstsicher, sein Leben vor ihm, ein Plüschsessel hinter ihm. Alles ist möglich.
Das könnte der junge Charles sein. Er ist in Odessa geboren und hat die ersten zehn Jahre seines Lebens in einem gelben, stuckverzierten Palais am Rand eines staubigen, von Kastanienbäumen gesäumten Platzes verbracht. Wenn er zum Dachboden des Hauses hinaufsteigt, sieht er über die Masten der am Hafen liegenden Schiffe aufs Meer. Sein Großvater bewohnt ein ganzes Stockwerk und besetzt viel Raum. Die Bank ist nebenan. Charles kann nicht die Promenade entlanggehen, ohne dass jemand seinen Großvater oder Vater oder seine Onkel aufhält, sie um Informationen bittet, um eine Gefälligkeit, eine Kopeke, irgendetwas. Unwissentlich lernt er, dass sich in der Öffentlichkeit zu bewegen eine Reihe von Begegnungen und Ausweichmanövern bedeutet; wie man Bettlern und Straßenhändlern Geld gibt, wie man Bekannte grüßt, ohne stehen zu bleiben.
Dann übersiedelt Charles nach Wien und lebt dort die nächsten zehn Jahre mit seinen Eltern und Geschwistern, seinem Onkel Ignaz und seiner frostigen Tante Emilie sowie seinen drei Cousins, Stefan (hochnäsig), Anna (scharfzüngig) und dem kleinen Viktor. Ein Hauslehrer kommt jeden Morgen. Sie lernen Sprachen: Latein, Griechisch, Deutsch und Englisch. Zuhause müssen sie immer Französisch sprechen, untereinander dürfen sie das Russische verwenden, bei Jiddisch aber, das sie in den Hinterhöfen Odessas aufgeschnappt haben, dürfen sie sich nicht erwischen lassen. Die Cousins können alle einen Satz in einer Sprache anfangen und in einer anderen beenden. Diese Sprachen brauchen sie, als die Familie von Odessa nach St. Petersburg, Berlin, Frankfurt und Paris zieht. Sie brauchen sie auch, weil sie der gemeinsame Nenner einer Klasse sind. Mit Sprachen kann man von einer
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