Der Heiler
weiterlaufen, stellte es lauter und leiser, während ich am Ufer in nördliche Richtung ging und mir dabei die sechs-, sieben- und achtgeschossigen Häuser ansah. Ich versuchte, Gemeinsamkeiten zwischen Dingen zu sehen und zu hören, die womöglich gar nichts miteinander zu tun hatten: das letzte Telefonat mit ihr, Wellen oder Wind als Geräuschkulisse, die Koordinaten des Heilers, mein Instinkt und meine Hoffnungen. All das beschäftigte mich, während ich mit nassen Schuhen und eiskalten FüÃen auf der windigen und verregneten Landzunge umherlief und nicht wusste, wo ich beginnen sollte.
Die Häuser am Ufer schienen in ungewöhnlich gutem Zustand zu sein: In den meisten Wohnungen brannte Licht, ein kleines Wunder, mindestens aus zwei Gründen. Wir lebten nahe am Meer, und das bedeutete Ãberschwemmungen. Wir befanden uns auÃerdem in einem wohlhabenden Stadtteil. Das hätte eigentlich dazu führen müssen, dass die Mehrzahl der Bewohner nach Norden gezogen war, solange noch Gutwetter herrschte. Was immer das heutzutage heiÃen mochte.
An einem groÃen Stein, der an einer Seite glatt behauen war, führten stählerne Stufen nach oben. Ich stieg hinauf und kam auf eine kleine Plattform, die mit einem Stahlgeländer umgeben war. Auf der Seeseite gab es ein fest installiertes Fernrohr. An sonnigen Tagen konnte man damit wahrscheinlich weit hinausblicken. Jetzt sah ich gar nichts.
Ich drehte mich um. Das Strandcafé war zweihundert Meter und das nächste Haus etwa fünfzig Meter entfernt. Ich nahm das Handy vom Ohr und horchte.
Der raue und salzige Geruch des Meeres und der Rhythmus der Wellen, die ans Ufer schlugen, wirkten trotz Wind und Regen beruhigend und tröstlich. Manche Leute behaupteten, dass wir das Geräusch des Meeres seit Urzeiten in unseren Genen haben und dass das Meer uns irgendwann wieder unter sich begraben wird.
Ich kletterte die Stufen hinunter und ging zum Taxi zurück.
Etwa auf halbem Weg zwischen der Plattform und dem Taxi wurde ich plötzlich von einem Lichtkegel angestrahlt. Ich blieb stehen, hörte schwere Schritte aus Richtung des Lichtes.
Es waren zwei Männer mit grellen, schweren Taschenlampen, die sie auf der Schulter trugen. Sie sagten nichts, ich sagte nichts. Nur Meer und Wind sprachen, übertönten sich gegenseitig mit ihrem Rauschen. Beide Männer machten einen Schritt auf mich zu. Sie standen jetzt rechts und links vor mir. Wahrscheinlich war ihnen beigebracht worden, so zu stehen: weit genug voneinander entfernt, aber so, dass sich die Lichtkegel ihrer Lampen über dem Kopf des Opfers kreuzten.
Das grelle Licht zwang mich, den Kopf zu senken, und ich sah den Schlagstock erst, als er mich in die Seite traf, über der linken Niere.
Ich ging zu Boden und schnappte nach Luft, der Schmerz lähmte mich, nagelte mich fest.
»Was machst du hier?«, kam es von oben.
Ich wollte sagen, dass ich in friedlicher Absicht unterwegs war, mich nur umsehen wollte. Aber so weit kam ich nicht, denn schon spürte ich einen eisenbeschlagenen Springerstiefel im Bauch. Die letzten Sauerstofffetzen verflüchtigten sich, und die Strahlen der Lampen flimmerten wild vor meinen Augen.
»Was schleichst du hier rum?«
»Bist du ein Schnorrer?«
»Wir brauchen hier keine verdammten Flüchtlinge.«
Ich versuchte etwas zu sagen, aber aus meiner Kehle kamen nur Speichel und Pfeifen, nichts, was als Satz gelten konnte.
»Penner.«
Ein neuer Tritt in die Seite.
»Loser.«
Ein Hieb mit dem Schlagstock auf die rechte Niere.
»Schwuchtel.«
Ein Tritt in die Leisten.
Ich sah nichts, hörte nur die hasserfüllten Worte. Ich rollte mich auf den Bauch. Der Schlagstock fuhr auf meinen Rücken nieder wie ein groÃes wütendes Beil.
»Sei froh, dass wir heute nur zu zweit sind.«
»Du kommst noch gut weg.«
»Kann sein, dass du bloà stirbst.«
Gelächter. Der Schlagstock sauste auf mein linkes Ohr nieder, dass es heià und gleichzeitig taub wurde. Erneutes Gelächter.
Dann eine dritte Stimme, jünger, auf Englisch: »Zurück. Oder ich schieÃe.«
Die Lichtkegel der Lampen verschwanden.
»Weg da, weg da, oder ich töte euch.«
Schwere Schritte, die sich diesmal entfernten.
»Verschwindet!«
Leichtere Schritte. Hände packten meine Jacke, rissen mich hoch.
»Steh auf.«
Ich versuchte, aufrecht zu stehen. Es war nicht leicht. Ich
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