Der Heiler
Süden ging. Manche Mails hatten auch einen überraschend persönlichen Ton: Johanna wurde mit Vornamen angeredet, ihre »wahrhaftige und bedingungslose Art, Journalismus zu machen«, wurde gelobt, es wurde sogar unterstellt, dass sie die Notwendigkeit eines so extremen Handelns verstünde.
Die vorläufig letzte Mail war vierundzwanzig Stunden nach den Morden von Punavuori eingegangen. Eine vierköpfige Familie â der Eigentümer und Geschäftsführer einer groÃen Autohauskette, seine Frau und ihre beiden Söhne, zehn und zwölf Jahre alt â war tot in ihrer Wohnung gefunden worden. Ohne die E-Mail wäre das Ganze wahrscheinlich als erweiterter Selbstmord durchgegangen, denn auch solche Fälle kamen wöchentlich ans Licht. Zum Entstehen der Selbstmordtheorie hatte die Tatsache beigetragen, dass in der Hand des Vaters die groÃkaliberige Waffe steckte, mit der geschossen worden war.
Dann traf die Nachricht vom Heiler ein. Sie enthielt die Adresse des Tatortes und die Aufforderung, die Sache genauer zu untersuchen.
Die Ermittler fanden heraus, dass der Vater zwar die ganze Zeit die Waffe in der Hand gehalten, aber jemand anderes gezielt und abgedrückt hatte. Der Vater hatte also jeden Schuss in der Hand und im Körper gespürt. Er hatte gesehen und gehört, wie seine eigenen Kinder durch die Kugeln aus der Pistole, um die er seine Finger pressen musste, starben.
Diese letzte E-Mail war hastig und schlecht geschrieben, sie war falsch, sowohl vom Inhalt als auch von der Grammatik her. Und die Tat wurde in keiner Weise mehr begründet.
Ich stand auf und ging auf den Balkon, wo ich lange Zeit verharrte. Ich atmete die kühle Luft ein, versuchte, den Stein loszuwerden, der sich auf meine Brust gelegt hatte. Der Stein wurde leichter, rollte aber nicht herunter.
Wir waren fast sofort nach unserer Hochzeit in diese Wohnung gezogen, sie war unser Heim geworden, und wir hingen an ihr. Hier war unser Platz in der Welt. In einer Welt, die noch vor zehn Jahren ganz anders gewesen war. Im Nachhinein lieà sich natürlich leicht sagen, dass sämtliche Vorzeichen schon damals erkennbar gewesen waren: die bis weit in den Herbst hineinreichenden, immer trockeneren Sommer, die regnerischen Winter und zunehmenden Stürme, die Meldungen von den vielen Millionen Menschen, die in der Welt umÂherzogen und allmählich nach Europa vorrückten, die exotischen Insekten, die sich auf die Haut setzten und ÂBorreliose, Malaria, Gelbfieber und Enzephalitis übertrugen.
Unser Haus stand auf einem Hügel, und bei klarem Wetter konnten wir bis zum Strand von Arabianranta Âsehen, wo viele Häuser wiederholt vom Meer überflutet worden waren. Genau wie andere vom Hochwasser betroffene Stadtteile war auch Arabianranta häufig ohne Elektrizität. Man wagte nicht, Strom in die beschädigten, dem Wasser ausgesetzten Gebäude zu leiten. Ich sah mit bloÃem Auge und aus zweieinhalb Kilometer EntÂfernung Unmengen von verschieden groÃen Lagerfeuern am Ufer brennen. Aus der Ferne betrachtet wirkten die meisten von ihnen klein und schwach, wie gerade aufgeflammte Streichhölzer, die man leicht auspusten könnte. In Wahrheit hatten viele Feuer anderthalb Meter Durchmesser. In ihnen wurde alles verbrannt, was sich am Strand und in den verlassenen Häusern ansammelte. Gerüchte besagten, dass darin, neben allem anderen, auch tote Tiere und sogar Menschen beseitigt wurden.
Seltsam, wie ich mich an den Anblick der Feuer gewöhnt hatte. Ich hätte nicht mal auf Anhieb sagen können, wann sie zum ersten Mal aufgetaucht waren oder wann das Flammenband, das sie bildeten, zur allabendlichen Erscheinung geworden war.
Der Silhouette von Arabianranta folgten weiter hinten die Türme von Pasila, und an dem Leuchten und Glühen hinter Kivinokka und Kulosaari konnte ich erkennen, wo sich das Stadtzentrum befand. Ãber allem ruhte der dunkle und unendliche Nachthimmel, der die ganze Welt in kaltem sicheren Griff hielt.
Ich merkte, dass ich eine Verbindung suchte zwischen dem, was ich vorhin gelesen hatte, und dem, was ich jetzt sah.
Johanna.
Irgendwo dort.
Wie ich zu Lassi gesagt hatte, war es völlig sinnlos, Anzeige zu erstatten. Wenn die Polizei schon keine Zeit und Ressourcen hatte, Mörder von Familien zu jagen, wie sollte sie dann nach einer Frau suchen, die seit vierundzwanzig Stunden verschwunden war, eine von Tausenden
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