Der heilige Erwin
Kinder mit roten Wangen. Ihre Augen sind geschlossen, die Mäulchen weit aufgerissen – man weiß nicht genau, ob sie singen oder schreien. Auf dem Rücken, dort, wo bei anderen Kindern der Schulranzen sitzt, haben diese Wesen Flügel wie Vögel. Gott kann sich nicht erinnern, eine solche Kreatur jemals erschaffen zu haben. Neugierig wendet Er sich an die Verkäuferin, die gerade ihre rot gefrorenen Hände am Heizlüfter wärmt. »Entschuldigen Sie bitte, meine Dame. Können Sie mir sagen, was das für seltsame Figuren sind?« – »Na ja, Engel halt. Aus Ton, handbemalt!« – »Engel?!« Gott wirft ihr einen Blick zu, als sei sie nicht ganz bei Trost. »Das sind doch keine Engel!« – »Natürlich sind das Engel, das sieht doch jeder! Hier, Flügel dran, alles. Handbemalt!« Sie hält ihm eines der geflügelten Wesen unter die Nase. Gott kann es noch immer nicht glauben. »Soll das heißen, so sehen für Sie Engel aus? Das ist ja unfassbar!« Die Frau zieht die Figur zurück und funkelt ihn aus zusammengekniffenen Augen kampfbereit an. »Hör mal, willst du mir hier mein Geschäft kaputtmachen, du Penner? Das sind verdammt noch mal Engel mit verdammten Scheißflügeln dran, und die Leute mögen so was. Und wenn du nicht gleich deinen Arsch von meinem Stand wegbewegst, dann rufe ich die Bullen, verstanden?!« Gott hätte ihr gern erklärt, dass Engel nicht die geringste Ähnlichkeit mit diesen Figuren haben, aber das wütende Glitzern in den Augen der Frau lässt ihn verstummen. Missmutig geht Er weiter. Was haben die nur alle gegen mich? Erst der Kirchenmann und jetzt die Frau …
Während Gott sich in Gedanken versunken durch die Menge schiebt, vorbei an Bratwürsten, Krippenfiguren, Holzspielzeug und Paradiesäpfeln, fällt ihm auf, dass Erwins Füße zu schmerzen beginnen. Etwas abseits der Menschenmenge entdeckt Gott ein paar Steinstufen, auf denen Er sich niederlässt. Nun kann Er das Geschehen von außen beobachten. Ein Betrunkener wankt vorbei, auf dem Weg von einem Glühweinstand zum nächsten. Gott erblickt auch einen weißbärtigen Mann in roter Robe, der von einer Schar Kinder umzingelt ist. Die Knirpse schauen mit großen Augen zu, wie der Mann in den dicken Sack zu seiner Linken greift und bunte Prospekte mit den Weihnachtsangeboten eines Spielwarengeschäfts herauszieht. Plötzlich landet klirrend eine Münze vor Erwins Füßen. Als Gott sich umschaut, ist der Spender schon nicht mehr auszumachen. Er greift nach der Münze, und schon trifft ihn die nächste am Kopf, achtlos hingeworfen von jemandem, der sein Gewissen beruhigen wollte. So geht es weiter, und nach einer halben Stunde und diversen mitleidigen Blicken hat Gott genug Geld zusammen, um sich an einen der verlockenden Stände zu begeben und sein Abendessen zu kaufen. Die Aussicht auf ein warmes Mahl stimmt ihn wieder versöhnlich. Er entscheidet sich für »Rievekooche«, weil ihm das Wort so gut gefällt. Dazu Apfelmus und ein Becher Glühwein. Die Reibekuchen verbrennen ihm Erwins Zunge, schmecken aber trotzdem ausgezeichnet.
Mit dem Glühwein im Kopf wird Gott schlagartig müde. Einer Eingebung folgend, steigt Er die Treppe zur nahen U-Bahn-Station hinab. In dem warmen Schacht findet Er eine abgelegene Bank, entrollt den Schlafsack und legt sich nieder.
8
U mgeben von hohen Papierstapeln sitzt Jesus am Schreibtisch und blättert verzweifelt in einem dicken Buch. »Es tut mir wirklich leid, aber ich kann Ihren Namen nirgends finden!« Er blickt sein Gegenüber an, eine alte Frau im Nachthemd mit schlohweißen Haaren, die ihr offen auf die Schultern fallen. Sie verliert an Farbe, wird durchscheinend, so lange sitzt sie schon da. »Wissen Sie, ich habe meinem Vater schon tausendmal gesagt, Er soll sich einen Computer anschaffen. Sie glauben ja gar nicht, wie viele hier Tag für Tag ankommen. Aber nein, Er bleibt bei seiner Zettelwirtschaft. Und ich muss das jetzt ausbaden!« Die Frau blickt zu ihm auf, mit großen bittenden Augen. Ihre Konturen beginnen bereits zu verschwimmen, die ganze Gestalt ist in Auflösung begriffen. Flehentlich richtet sie das Wort an Jesus, ihre Stimme ist kaum mehr als ein Hauchen: »Und was wird jetzt aus mir?« – »Nun ja, Sie verschwinden, so wie es aussieht. Es tut mir leid, aber wie gesagt, ich mache das hier ja nur zur Aushilfe!« Jesus zuckt mit den Schultern, seufzt kurz auf und betrachtet dann ratlos seine Hände. »Wissen Sie, ich bin normalerweise mehr für die geistigen Dinge zuständig.« Er
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