Der Heilige Krieg
keineswegs beseitigt. Drei Jahre später griff eine maurische Streitmacht erneut fränkisches Territorium an. Und wieder war es an Karl Martell, den Eindringlingen Einhalt zu gebieten. Aber so weit wie im Jahr 732 sollten die Kämpfer Allahs nie wieder in das christliche Abendland vorstoßen.
Alles in allem: Die Zweifel, ob bei Tours und Poitiers wirklich das
Schicksal Europas auf dem Spiel stand, sind berechtigt. Andererseits entsprach das Vorgehen der Muslime aus Andalusien durchaus dem ihrer Vorgänger aus Arabien. Im ersten Jahrhundert des Islam waren kleine Beuteaktionen häufig den auf Eroberung angelegten Feldzügen vorausgegangen. Die militärischen Nadelstiche dienten dabei nicht nur der schnellen Bereicherung, sondern auch der Erkundung von Terrain und Gegner. Eine Niederlage der vereinten christlichen Kräfte 732 hätte durchaus dazu führen können, dass in den Folgejahren eine mit Truppen aus Nordafrika verstärkte Streitmacht der Muslime angerückt wäre – mit dem Ziel einer Unterwerfung Nordeuropas.
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Edward Gibbon (1737 – 1794), englischer Historiker. Porträt aus dem Jahr 1779.
Razzia
Der Begriff Razzia wird im heutigen Sprachgebrauch im Zusammenhang mit überraschenden Polizeiaktionen verwendet. Ursprünglich stammt er vom Arabischen »gaziya/gazhawa« ab, das einen organisierten militärischen Vorstoß beschreibt. Die Verknüpfung solcher Vorstöße mit Beutezügen spielt dabei bereits im Koran eine Rolle. Das Beutemachen bei Nichtmuslimen wird in den Heiligen Schriften des Islam als legitime Aneignung fremden Eigentums bezeichnet.
Eine »razzia« war in der Regel ein saisonales Unternehmen und beschränkte sich auf die Sommermonate nach der Ernte. Neben regulären Kriegern konnten so auch waffenfähige Männer an den Kriegszügen teilnehmen. Als Lohn für ihren Einsatz stand ihnen ein Anteil an der Beute in Aussicht. Der Löwenanteil aus den Plünderungen und dem Verkauf von Sklaven floss aber in die Kassen des Kalifen und seiner Regionalverwaltung. In der Zeit der islamischen Expansion waren diese Einnahmen für den Ausbau und die Konsolidierung der muslimischen Herrschaft in den eroberten Gebieten unverzichtbar.
Die Geburt des Islam
Was ist der Islam? Wer sind diese Muslime, die den christlichen Kräften zwischen Tours und Poitiers in geordneter Schlachtformation gegenüberstanden? Karl Martell und seine Mitstreiter werden Ende Oktober 732 kaum in der Lage gewesen sein, sich mit der Herkunft und dem Glauben ihrer Gegner zu beschäftigen. Immerhin verrät der Begriff »Sarazenen«, mit denen die frühen Muslime in der Regel tituliert wurden, was die Christen von ihnen wussten und dachten.
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Die Verstoßung Hagars und Ismaels ist ein beliebtes Motiv der christlichen Kunst. Ölbild auf Holz von Lucas Cornelisz, um 1525.
Der christliche Theologe und Kirchenlehrer Johannes von Damaskus erklärte bereits Anfang des 8. Jahrhunderts, was genau mit »Sarazenen« gemeint war: »Weiterhin gibt es den Aberglauben der Ismaeliten. Sie werden auch Sarazenen genannt, was von ›Sarais kenoi‹ oder ›Entflohene Sarahs‹ stammt. Denn Hagar hatte zu dem Engel gesprochen: ›Ich bin von Sarah, meiner Herrin, mit meinem Sohn Ismael geflohen.‹«
Der Begriff »Sarazene« hat biblische Ursprünge. Er entstand im Zusammenhang mit der Ge-schichte von Abraham und Sarah. Ihre Ehe war zunächst kinderlos geblieben. Der Beischlaf mit Hagar, der ägyptischen Magd Sarahs, sollte Abhilfe schaffen. Es war eine fruchtbare Verbindung: Hagar gebar Ismail. Auf Abrahams erstgeborenen Sohn geht auch die Bezeichnung Ismaeliten für die frühen Muslime zurück.
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Johannes von Damaskus (650 – 754), russische Ikone des Spätmittelalters.
Nach muslimischer Überlieferung errichteten Vater und Sohn gemeinsam das Heiligtum von Mekka – die Kaaba. Dann aber gehen ihre Wege auseinander. Grund dafür waren Zwistigkeiten zwischen Abrahams Frauen. Sie waren ausgebrochen, nachdem auch Sarah einen Sohn geboren hatte. Das biblische Dreiecksverhältnis endete mit der Flucht von Hagar und Ismail. Fortan gelten ihre Nachkommen als »Entflohene Sarahs« – Sarazenen.
Die Anekdote aus dem Alten Testament wirft ein bezeichnendes Licht auf das Bild, das sich die Christen von den frühen Muslimen machten. Sie sahen in ihnen eine Gruppe christlicher Abweichler – ein Urteil, das nahezuliegen schien. Nehmen doch die Offenbarungen des Koran ausführlich Bezug auf das Personal der Bibel: Nicht nur Abraham (Ibrahim)
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