Der heilige Schein
Orgel der Kirche und die Gesänge der Gläubigen bis in die Wohnung hören.
Mein Großvater war im Krieg gefallen, und der einzige Mann, der regelmäßig ins Haus meiner Großmutter kam, war ein aus den Niederlanden stammender, aber seit seiner Jugend in diesem Kloster stationierter Pater mit einem unerschütterlichen klerikalen Humor. Über viele Jahrzehnte kam er regelmäßig über die Straße zum Nachmittagstee bei meiner Großmutter und versorgte uns mit Neuigkeiten aus dem kirchlichen Leben der Stadt.
So konnte es nicht ausbleiben, dass ich sehr schnell auf die Frage, was ich denn einmal werden wolle, »Pfarrer« antwortete. Als ich mit vierzehn Jahren religionsmündig geworden war, ließ ich mich taufen, und auch der Traumberuf Priester blieb über die Pubertät hinaus erhalten. Mein Vater hielt mir immer wieder warnend den Zölibat vor Augen, was mich aber kaum schrecken konnte, da ich ohnehin bis dahin nie irgendein wirkliches sexuelles Interesse an Mädchen verspürt hatte. Unter diesen Umständen kam mir das natürlich wie eine glückliche Fügung des Himmels vor. Die langsam aufkeimenden Gefühle für andere Jungen waren in diesem Zusammenhang nie ein Thema, und mir schienen sie auch im Hinblick auf meinen Berufswunsch unproblematisch.
Im Alter von sechzehn Jahren trat ich in das Gymnasium und Internat der nordbayerischen Benediktinerabtei Münsterschwarzach über. Dort vertiefte sich mein Interesse am Priesterberuf, an Theologie und Liturgie. In der Abteikirche konnte ich an feierlichen Gottesdiensten in lateinischer Sprache teilnehmen. Ich erinnere mich noch gut an meine erste lateinische Vesper am Christkönigsfest, bei der ich zu Tränen gerührt war, als die Mönche, eingehüllt in Weihrauch, das »Magnifikat« sangen, während alle Glocken der mächtigen Basilika läuteten. Auch eine riesige philosophische und theologische Bibliothek stand mir dort zur Verfügung, in der ich viele Stunden mit der Lektüre theologischer Bücher und Zeitschriften verbrachte. Die später zur Profession gewordene Begeisterung für das Denken des mittelalterlichen Theologen Thomas von Aquin nahm hier, zwischen alten Folianten und dem meditativen gregorianischen Psalmengesang der Mönche, ihren Anfang.
Zum anderen war hier aber auch eine große Schar gleichaltriger Jungen, mit denen man nicht nur Fußball spielte, sondern auch die abenteuerliche Zeit des Erwachsenwerdens gemeinsam erlebte. Es war eine Atmosphäre, in der man sich gegenseitig geistig herausforderte, abende- und manchmal auch nächtelang über den Sinn des Lebens, über philosophische und politische Fragen diskutierte.
Die Präfekten, die ausschließlich Geistliche der Benediktinerabtei waren, führten ein strenges, aber nie ungerechtes Regiment. Ihre große Stärke war die Offenheit und Ehrlichkeit, mit der sie uns begegneten und die sich auf das Zusammenleben der Schüler im Internat auswirkte.
Obgleich die Gesellschaft damals, zumal in der eher ländlichen Umgebung der Abtei, in diesem Punkt noch weitaus restriktiver war als heute, gab es Präfekten, die offen über ihre homosexuelle oder eben auch heterosexuelle Veranlagung sprachen. Das half mir, mir meiner Gefühle immer klarer zu werden und mich spätestens in der Oberstufe mit Mitschülern in einer vorurteilsfreien Atmosphäre darüber auszutauschen.
An diesem offenen und ehrlichen Umgang liegt es meines Erachtens, dass es in diesen Jahren nicht einmal andeutungsweise zu irgendeiner Art von unangemessener Annäherung seitens der Präfekten, geschweige denn zu so etwas wie sexuellem Missbrauch kam. Gerade die Priester, die aus ihrer homosexuellen Veranlagung kein Geheimnis machten, waren besonders bemüht, eine pädagogisch sinnvolle Distanz zu uns konsequent aufrechtzuerhalten.
Trotz der guten Erfahrungen, die ich in der Abtei machte, entschied ich mich nach dem Abitur, doch nicht Priester zu werden. Das war ein längerer, schmerzhafter Prozess. Ein Präfekt, mit dem ich über den Kampf zwischen sexuellem Begehren und religiöser Tugend lange Gespräche geführt hatte, wies mich auf Julien Greens Roman Jeder Mensch in seiner Nacht hin. Die Lektüre wurde für mich zum Schlüsselerlebnis. Nach nur wenigen Seiten schlüpfte ich fast vollständig in die Rolle des Protagonisten Wilfred, eines jungen Mannes, dessen nächtliche Seite ganz von der sündigen Begierde beherrscht wird. Diese Begierde entlädt sich in wilden sexuellen Exzessen, in denen er alles um sich herum vergisst. Daneben existiert
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