Der heilige Schein
nicht wundern.
So werden auf perfide Weise Täter zu Opfern und Opfer zu Tätern umgedeutet. Ähnliche Äußerungen kommen auch von anderen hochrangigen Kirchenvertretern, die bezeichnenderweise alle dem konservativen bis reaktionären Katholizismus zuzurechnen sind. Zunächst rufen solche Aussagen vielerorts Fassungslosigkeit hervor, doch bei näherer Betrachtung sind sie innerhalb des Systems der konservativ-katholischen Kirche weitaus folgerichtiger und konsequenter, als man gemeinhin annimmt.
Was all die hochrangigen Kleriker allerdings übersehen bzw. übersehen wollen, ist die andere Seite der Medaille: Die Zahl homosexuell veranlagter Priester in der katholischen Kirche wird von Experten auf zwanzig bis vierzig Prozent geschätzt, ist damit also etwa viermal so hoch wie der Anteil Homosexueller an der Gesamtbevölkerung. Der bekannte Psychotherapeut Wunibald Müller, der sich seit vielen Jahren intensiv mit dem Thema beschäftigt, schätzt den Anteil homosexuell veranlagter Priester gar auf fünfzig Prozent. Und der Jesuit Hermann Kügler bezeichnete die katholische Kirche in einem Interview mit dem Spiegel vom 25. November 2005 als die weltweit »größte transnationale Schwulenorganisation«. Man fragt sich natürlich, wieso eine Institution, der eine so große Zahl homosexuell Veranlagter angehört, eine derart krasse Homophobie an den Tag legt. Ebenso verwunderlich erscheint es auf den ersten Blick, dass diese homosexuellenfeindliche Organisation so viele Homosexuelle geradezu magisch anzieht. Darauf gehe ich später noch ausführlich ein.
Vor dem Hintergrund der zunehmenden Homosexuellenfeindlichkeit in der katholischen Kirche war für mich mit dem Ausspruch Overbecks der Zeitpunkt gekommen, an dem mir endgültig klar wurde, dass im ungeschriebenen Katastrophenplan der katholischen Kirche etwas entschieden falsch lief. So unangenehm die Konsequenzen für mich sein würden, zu solchen vor Bigotterie strotzenden Äußerungen durfte ich nicht länger schweigen. Die schmerzliche Einsicht, dass ich mich durch meine langjährige Arbeit in verschiedenen herausgehobenen Positionen innerhalb dieser fundamentalistischen Bewegung in gewisser Weise mitschuldig gemacht hatte, verstärkte noch meine Motivation, endlich einen Schlussstrich zu ziehen. Die Scheinheiligkeit, mit der hier agiert wurde, war mir schon längere Zeit zuwider, doch erst jetzt fand ich den Mut, die notwendigen Konsequenzen zu ziehen.
Religiöse Tugend oder sexuelle Erfüllung?
Ich bin 1968 geboren, und eine Karriere im traditionalistischen Lager wurde mir alles andere als in die Wiege gelegt. Mein protestantisch erzogener, aber atheistischer Vater, der mit meiner katholischen Mutter lediglich eine Zivilehe eingegangen war, studierte damals Medizin und war in der Studentenbewegung aktiv. Meine ersten Gehversuche machte ich zwischen langhaarigen und bärtigen Kriegsdienstverweigerern, die in unserem Wohnzimmer rauchend auf dem Boden saßen und konspirative Aktionen planten. An eine Kindertaufe war unter diesen Umständen nicht zu denken, sehr zum Missfallen meiner frommen katholischen Großmutter, die nach dem Ersten Weltkrieg noch in einer sogenannten heilen katholischen Welt in der Rhön aufgewachsen war. Nach Ansicht meiner Eltern sollte ich später einmal selber entscheiden, welche Religion mir zusagte.
Eine gewisse Entscheidungshilfe stellte eben jene Großmutter dar. Bei ihr gab es nicht nur den besten Streuselkuchen, sondern auch viel mütterliche Aufmerksamkeit und eine gehörige Portion Erziehung im Traditionskatholizismus .
Zu ihrer Ehrenrettung muss ich sagen: Von der Hölle, gehässigen Vorurteilen und Verboten war in diesem Katholizismus nicht die Rede. Aber wir wanderten von einer Würzburger Barockkirche zur nächsten, und sie erklärte mir die prächtigen Altarbilder, Statuen, Kreuzwegstationen und Krippen. Unterwegs begegneten wir immer wieder Nonnen und Priestern, die mich besonders wegen ihrer Kleidung beeindruckten. In dem Tagebuch, das meine Mutter damals für mich führte, lese ich: »Heute warst du mit deiner Omi in der Stadt spazieren, da kamen drei Mönche in ihren Kutten vorbeigelaufen, du sahst sie und riefst ganz aufgeregt: >Die drei Königen« Vom Küchenfenster der Wohnung meiner Großmutter aus blickte man direkt in den Kreuzgang des benachbarten Franziskanerklosters, wo die Patres mit ihren Kutten auf und ab liefen und ihr Brevier oder den Rosenkranz beteten. Standen im Sommer die Fenster offen, konnte man die
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