Der heiße Himmel um Mitternacht: Roman (German Edition)
Gefühl der Verachtung.
»Ich kann nicht, Ross. Ich muss weiter. Das kannst du doch sicher begreifen.«
»Aber als Skipper auf 'nem Eisbergschlepper …?«
»Egal. Ich nehme, was ich kriege.« Auf einmal war Carpenter schwindelig. Seine Augäpfel schmerzten. »He, Ross, geht es in Ordnung, wenn ich mich jetzt nach Hause verziehe? Ich kann mich kaum noch auf den Beinen halten, und heute bin ich hier zu bestimmt nichts mehr brauchbar. Außerdem, die Krise ist überstanden. Ich schwöre es dir, es ist vorüber. Lass mich gehen, okay?«
»Ja«, sagte McCarthy geistesabwesend. »Geh nur, wenn du musst. Aber falls die Lage sich doch wieder verschlimmern sollte, müssen wir dich trotzdem wieder herholen, egal, wie kaputt du bist.«
»Soweit kommt es nicht. Glaub mir!«
»Und morgen schaust du vorbei. Wir müssen dran denken, deinen Nachfolger einzuarbeiten, wer immer das sein wird.«
»Sicher. Klar.«
Carpenter schwankte hinaus. Im Umkleideraum zog er sich den Schutzanzug über und legte sich sorgfältig die Faciallunge an, um Hals und Atemwege gegen die gewohnten herumschwebenden toxischen Stoffe in der Luft abzuschirmen. Der Himmel war grün und schwarz durchzogen von breiten widerlichen Streifen der Ekelsuppe rings um das große böse starrende Auge der Sonne; die Luft, heiß und feucht, klebte in den Straßen wie eine schwere Flauschdecke. Sogar noch durch den Maskenfilter spürte Carpenter, dass die Luft wie feine kitzelnde Drähtchen in die Nasenhöhlen stach. Erleichtert sah er beinahe sofort einen herankommenden Kugelbus. Er sprang rasch auf, drängte sich zwischen die anderen Maskenfiguren, um einen Platz zu ergattern, und zehn Minuten später war er zurück in seinem Zimmer im Hotel.
Er riss sich die Lungenmaske ab, dann ließ er sich mit allen Kleidern aufs Bett fallen; er war zu überdreht, um sich richtig schlafen zu legen.
Was für eine Welt, das da draußen, dachte er. Seit hundert Jahren den ganzen Spülicht über uns runtergeschüttet, und das Zeug regnet weiter und weiter und weiter runter. Dann die Eutrophierung. Rote Tiden. Plötzliche unwillkürliche, unerwartete Ausfälle. Ausbrüche von Mutagenese. Ebenso plötzlich und willkürlich. Überflutete Küstenregionen. Unerklärbar auftauchende Wirbelstürme und wilde Temperaturschwankungen. Weite Flächen verrottender Vegetation, die am Hitzschlag verdorrte und unter der erbarmungslosen Sonne fermentierte. Insektenhorden auf dem Marsch durch ganze Kontinente, die alles auffraßen, was auf ihrem Weg lag, und breite Narben Kahlschlag hinter sich ließen. Rings um den Globus eine nicht mehr zählbare Menge von Umweltauswirkungen, deren Ursache und Ursprünge nicht mehr direkt feststellbar waren. Im Grunde Diskontinuitäten. Die Auslöserschäden waren vor langer Zeit angerichtet worden. Und gründlich. Da war die Saat gesät worden für die anhaltende und sich mehr und mehr ausbreitende Katastrophe. Und jetzt reiften die Früchte davon heran. Überall.
Am schlimmsten traf es die Mittleren Breiten, die ehedem so fruchtbaren Gebiete der Gemäßigten Zone. Dort regnete es inzwischen fast nie mehr. Absterbende Wälder, sich ausbreitende neue Steppen, Wüsten, in denen nicht einmal mehr Gras wachsen konnte … Die brüchig werdende polaren Eisschelfe … Der verwaschen-hellweiße Dunsthimmel, gestreift von den grellen Schmierstreifen der Treibhausgifte … Überall an den Küsten absaufendes Tiefland; aus dem Meer ragen die Reste zerfallender Gebäude … Und dann, natürlich, auch die anderen Gegenden, wo das Problem ein Zuviel an Niederschlag war, nicht die Dürre. Carpenter dachte: Das ist die Rache für die Regenwälder. Wo einst ein angenehm temperiertes Klima bestanden hatte, wurden Regionen heimgesucht von endlosen Regenfällen und einer erstickendfeuchten Hitze und in dunstgeschwängerte Treibhausdschungel verwandelt. Über die Autostraßen wucherten Kriech- und Schlingpflanzen. Affen und Alligatoren begannen nach Norden abzuwandern. In den großen Städten breiteten sich absonderliche Tropenkrankheiten epidemisch aus. Dann fiel Carpenter ein, dass McCarthy – wenn er sich geirrt hatte, die Giftwolken nicht abzogen und Seattle und Portland in der nächsten Woche doch den Giftmüll abbekommen sollten – ihm sofort die Schlinge um den Hals legen würde. Man würde einen Sündenbock brauchen – und der würde er sein. Und statt der Versetzung zu dem Eisberg-Schlepper und seiner Beförderung würde er auf irgendeine unbedeutende Stelle an einem
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