Der Henker von Paris
Henker. Wir köpfen undhängen Verbrecher, aber wir übernehmen Verantwortung für das Schicksal der Unsrigen.«
Jean-Baptiste fühlte sich bedroht und genötigt nachzugeben. In diesem Augenblick hasste er Jouenne. Schon wieder wollte jemand sein Schicksal bestimmen. Auch die Satteltasche kam ihm wieder in den Sinn. Jouenne hatte ihn bestohlen. »Ja«, hörte er sich sagen, »ich werde sie heiraten.« Und dann fügte er mit gepresster Stimme hinzu: »Nach der Geburt werde ich mit Joséphine und dem Kind nach Paris ziehen.«
Jouenne legte die Axt auf den Boden. Er war sichtlich irritiert. »Es ist gut, dass du sie heiraten willst, aber es ist nicht gut, dass du das Gehöft verlassen willst. Was willst du in Paris? Hungern? Stehlen? Paris ist eine Kloake, Dreck, Unrat, nachts sind die Gassen unsicher, die Menschen haben keine Arbeit, zu wenig Brot, sie verhungern. Bleib hier. Du könntest mein Nachfolger werden, und eines Tages würde dein Sohn dein Nachfolger sein.«
»Ich will meinen Nachkommen den Fluch ersparen. Sie sollen frei sein. Es ist nicht jedermanns Sache, das Leben eines Geächteten zu leben.«
»Fass keine voreiligen Beschlüsse, Chevalier, denk darüber nach. Nach einigen Nächten wirst du vielleicht deine Meinung ändern. Henker werden gut bezahlt. Und hier auf dem Land findest du immer ein paar Kartoffeln. Aber die wirst du nicht brauchen. Weil du der Henker bist. Hier erlaubt uns das Gesetz die Havage: Du darfst auf dem Markt so viel Obst, Gemüse, Fleisch und Fisch an dich nehmen, wie du mit zwei Armen fassen kannst. Sogar Eier. Alles umsonst.«
»Ich weiss. Haben Sie etwa vergessen, dass ich einer Henkersdynastie entstamme? Und haben Sie vergessen, dass ich mein bisheriges Leben damit verbracht habe, diesem Schicksal zu entkommen?«
»Chevalier«, sagte Jouenne in ungewöhnlich väterlichem Ton, »ich würde dir alles beibringen über die Pflanzenheilkunde. Wir würden nicht nur Urteile vollstrecken, wir würden sogar Kartoffeln anpflanzen.«
»Ich dachte, die gibt es nur in der Neuen Welt.«
»Nein«, sagte Jouenne und lachte. »Im Burgund pflanzen sie bereits Kartoffeln an. Ich habe einige in meinem Garten. Sie schmecken sehr gut, und die Schale lindert Brandschmerzen.« Seine Gesichtszüge wurden weich und sanft. Er wünschte sich so sehr, dass Jean-Baptiste blieb und sie alle zusammen eine Familie würden. »Chevalier, vergiss nicht, was ich dir damals in der Kapelle gesagt habe. Du kannst dein Schicksal erkennen, aber du kannst ihm nicht entrinnen. Das ist der Fluch. Wenn du dich dagegen aufbäumst, wird das Leben dich brechen.«
»Nein, nein«, insistierte Jean-Baptiste, »wenn ein Mensch sein Schicksal erkennt, kann er ihm entrinnen. Der Mensch ist frei, Meister Jouenne.«
»Der Mensch war noch nie frei«, sagte Jouenne mit unheilvoller Stimme, »der Mensch tut ein Leben lang Dinge, ohne zu verstehen, wieso er sie tut. Er ist wie ein Tier, das eine Fährte aufgenommen hat und nie mehr davon ablässt.«
Im Februar 1739 setzten die ersten Wehen ein. Jouenne bat Jean-Baptiste, in die Stadt zu reiten und eine Hebamme zu holen.
»Ich dachte, der Henker kann das auch«, sagte Jean-Baptiste erstaunt.
»Mir fehlt die Übung«, erwiderte Jouenne. »Wenn es irgendeine Frau wäre, würde ich es tun, aber nicht bei Joséphine. Sie braucht die beste Hebamme der Stadt.«
Jean-Baptiste ritt in das Nachbarstädtchen, wo sie die Urteile auf der Place du Puits-Salé vollstreckten. Das Blutgerüst war, wie üblich, einige Tage nach der letzten Hinrichtung abmontiert worden. Jetzt besetzten Marktstände mit einer kläglichen Auswahl an Obst und Gemüse den Platz. Zahlreiche Männer lungerten auf dem Platz herum. Die meisten waren bereits betrunken. Sie hatten frühmorgens ihren Sold erhalten und waren ehrenhaft aus der Armee entlassen worden. Es waren Männer aus dem Regiment des Marquis de La Boissière. Der Marquis hatte es endlich aufgelöst. Jean-Baptiste versuchte zu begreifen: Er war frei! Er musste nicht auf das verwunschene Gehöft zurück. Er konnte wählen, sich entscheiden. Frei.
Die beste Hebamme der Stadt hiess Monique. Sie wohnte zusammen mit ihrem wesentlich älteren Bruder in einem neueren Fachwerkhaus, wie sie die Siedler aus der Neuen Welt nach ihrer Heimkehr in Frankreich bauten. Das tragende Gerüst bestand aus dunkel gebeizten Sichtbalken. Die Zwischenräume waren aus Lehm und Ziegelwerk. Im Gegensatz zu den deutschen Fachwerkhäusern, die beinahe geometrisch angeordnete
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