Der Henker von Paris
Du kannst zwar alle auf die gleiche Art und Weise hinrichten, aber vielleicht richtest du einen zu Unrecht. Vielleicht ist erunschuldig, vielleicht ist das Urteil gekauft. Wenn du jemanden tötest, ist es irreversibel.«
»Dafür sind wir nicht zuständig, Vater.«
»Mag sein, Henri, mag auch nicht sein. Jede Rechtsprechung unterliegt dem Zeitgeist. Und jedes Land hat seine eigenen Gesetze. Wir wenden das Recht an, aber üben nicht Gerechtigkeit.« Ganz unvermittelt fragte er: »Erinnerst du dich an die Frau aus dem Königreich Siam?«
»Das Mädchen mit der Silberkanone?«
»Sie ist kein Mädchen mehr, Henri. In Siam altern die Menschen nicht wie wir. Sie ernähren sich anders. Sie werden nicht so fett, und ihre Haut bleibt länger geschmeidig und jung. Sie heisst Dan-Mali, ich möchte sie wiedersehen.«
Henri schaute seinen Vater lange an und sagte dann: »Hast du dich verliebt?«
»Henri«, sagte Charles beinahe beschwörend, »für die Liebe gibt es kein Alter. Liebe kannte ich bisher nur vom Hörensagen. Ich habe mein ganzes Leben getan, was mir andere vorschrieben, was die Familie vorschrieb, was die Gesellschaft vorschrieb, und jetzt, da die Revolution ausgebrochen ist, ist auch in mir der Drang nach Freiheit entfacht. Auch ich möchte ein neues Leben.«
»Weiss Mutter davon?«
»Nein, Henri, und es ist zwecklos, mit ihr zu reden.«
Marie-Anne war bereits seit einigen Wochen bei ihrer Schwester und half bei der Pflege ihres todkranken Schwagers. Niemand wusste, woran genau er litt. Er konnte kaum noch atmen. Mit der Zeit blieb ihm schon die Luft weg, wenn er sich im Bett aufrichtete. Er erstickte jämmerlich.Jeder Welpe, den man in der Pferdetränke ersäuft, stirbt schneller und einfacher.
Als Marie-Anne nach Paris zurückkam, um Kleider für die Beerdigung zu holen, fragte Charles, wann das Begräbnis stattfinde.
»Du bist nicht eingeladen, Charles. Sie wollen keinen Henker zu der Beerdigung.«
Er entgegnete nichts. Er half ihr, die paar Sachen aufs Pferd zu packen; sie liess es widerwillig zu. Als sie am Ende der Strasse verschwunden war, fühlte sich Charles erleichtert. So friedvoll könnte das Leben sein, dachte er und ging in die Pharmacie, um Lorbeerblätter zu zerstampfen. Er ertappte sich beim Gedanken, dass er insgeheim wünschte, Dan-Mali würde bei ihrem nächsten Ausflug auf den Markt einen Abstecher zu ihm unternehmen. Aber wahrscheinlich hatte sie Angst, dass ihre Familie in Siam die regelmässige Unterstützung durch Pater Gerbillon verlor. Charles hätte diesen Part gern übernommen, doch wie sollte er ihr das mitteilen? Er war in Gedanken immer bei ihr. Selbst wenn er nur in Tagträumen ihr Bild vor seinen Augen auferstehen liess, fühlte er sich ruhig und geborgen, ein Gefühl, das er seit frühester Kindheit nie mehr empfunden hatte. Obwohl Dan-Mali nichts für ihn tun konnte, schenkte sie ihm doch alles, wonach er sich sehnte. Sie musste nur da sein. Mehr nicht.
Eines Tages, Charles kam gerade vom Hof zurück, wo er sich am Brunnen gewaschen hatte, stand sie in der Pharmacie. Neugierig musterte sie die kleinen Gefässe mit den Salben.
»Wie bist du reingekommen?«, fragte Charles verblüfft.
»Durch die Tür.« Sie lächelte verschmitzt.
Er ging langsam auf sie zu. Mit leuchtenden Augen sah sie ihn an und senkte dann plötzlich beschämt den Blick. Er wollte ihr jede Peinlichkeit ersparen und zeigte ihr die kleinen Tongefässe. »Das sind Eibenwurzeln. Hier haben wir Thymian, Zitronenkraut, Dill. Das hier ist verkohltes Schilfrohr für abgestorbenes Körpergewebe. Die Pflanzen und Heilkräuter wachsen in meinem Garten. Ich zerstampfe sie und mische sie mit Ölen und Fetten, so dass eine Salbe oder Tinktur entsteht. Du könntest mir dabei helfen.«
Plötzlich umarmte sie Charles, so fest sie konnte. »Kun kwaun«, sagte sie, »ich habe Schmerzen.« Sie hatte Tränen in den Augen.
Charles bat sie auf das Bett und untersuchte sie. Während sie ihr Hemd auszog, schloss sie die Augen. Die Wunde hatte sich leicht entzündet. Charles desinfizierte sie und strich eine wundheilende Salbe darüber. Er roch das süssliche Öl, mit dem sie ihren ganzen Körper eingerieben hatte. Sie setzte sich auf die Bettkante und zog ihn zu sich heran. Sie wollte, dass er sich neben sie setzt, ergriff seine Hand und legte sie in ihren Schoss. Sie sah ihn lächelnd an. »So ist gut.« Beide schauten auf den Hof hinaus.
»Was bedeutet kun kwaun? «, fragte Charles.
»Guter Mann.« Nach einer
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