1050 - Die Nymphe und das Monster
Sie war so dicht an den Mann herangetreten, daß dieser ihren schlechten Atem roch, als strömte der Gestank aus dem offenen Mund einer Leiche.
Der Pfarrer ging einen Schritt zurück. »Es ist nicht nur meine Kirche und mein Altar. Alles gehört uns, der Gemeinde. Der Herrgott ist für uns alle da.«
Das wollte Madge nicht glauben. »Nein, Hochwürden, nein. Nicht bei uns. Das war einmal. Gott hat sich von uns zurückgezogen. Er ist weg aus deiner Kirche. Weg von deinem Altar.« Sie grinste wieder so bissig. »Du wirst ihn nicht mehr finden.«
Don Carmacho streckte sich. »Was willst du, Madge? Sag endlich, weshalb du hier auf mich gewartet hast.«
»Sie kommen«, flüsterte die Alte. »Ich weiß es genau, daß sie kommen. Das Blut war nur der Anfang, Hochwürden. Warte es ab.«
Sie hob warnend den rechten Zeigefinger. »Warte es nur ab…«
Bevor der Pfarrer eine Frage stellen konnte, war die Frau wieder verschwunden. Sie hatte sich erstaunlich schnell gedreht und huschte davon. Nur das Rascheln ihres Mantelstoffs war noch zu hören. Wenig später nichts mehr.
Carmacho atmete tief durch. Sein Gesicht veränderte sich. Es sah plötzlich hölzern aus und wirkte wie der Kopf eines Nußknackers.
Er wußte, was Madge gemeint hatte. Er kannte sie. Jeder im Ort kannte sie. Madge war so etwas wie die Kräuterhexe von Llangain.
Sie wußte viel über die Natur, die Landschaft und das Wasser, in dem sie wohnten, von denen sie oft genug erzählte.
Frauen, geheimnisvolle Wesen. Nymphen. Schöne, junge Dinger, deren Verführungskräfte phänomenal waren. Davon erzählte sie jedem, der es hören wollte oder nicht. Jedes Wort ihrer Geschichte war von einer Begeisterung getragen, als wünschte sie sich selbst einmal, eine dieser schönen Nymphen sein zu können.
Angeblich hatte sie die Wesen gesehen. Immer wieder kamen sie zu ihr, um mit ihr zu reden, doch das konnte der Pfarrer und die meisten ihrer Zuhörer nicht glauben. Trotzdem schaffte sie es, den Bewohnern Furcht einzujagen und sie davor zu warnen, an das sumpfige Ufer des Flusses Tywi zu gehen. Darin und auch in den nahe liegenden Tümpeln und Teichen hatten sie ihre Heimat.
Don Carmacho drehte sich um. Er hatte eigentlich nicht vorgehabt, seine kleine Kirche zu betreten. Es war ein verflucht kalter und windiger Tag, deshalb wollte er sich in seinem kleinen Haus aufwärmen, wo das Feuer im Kamin brannte. Er war auch nur unterwegs gewesen, um einem Menschen die Beichte abzunehmen.
Einem alten Fischer, der sich vor einigen Wochen beide Beine bei einem Unfall gebrochen hatte und nur im Haus bleiben konnte.
Er ging weiter. In seinem langen, schwarzen Mantel wirkte er wie eine schaurige Gestalt aus einem Gruselfilm. Die auf dem Kopf sitzende Baskenmütze wärmte seine Ohren leider nicht. Er ging vorbei an den Resten einer alten Mauer aus der Zeit der Kelten, passierte ein Denkmal, dessen Figur an ein Märchenwesen erinnerte – halb frauliche Schönheit, halb Tier – und wenig später geriet er in den Schatten der Kirche, die recht klein und zugleich sehr alt war. Romanische Bauweise, ohne Spielereien, ohne Verzierungen. Sie sah sehr sachlich aus, und ebenso präsentierte sich auch das Innere.
Vor dem schmalen Portal blieb er nachdenklich stehen. Der Wind umwehte ihn wie ein kalter Gruß. Er nagte an der Unterlippe und dachte darüber nach, daß die alte Madge recht gehabt hatte. Es gingen immer weniger Menschen in die Kirche. Seine Gottesdienste waren zumeist unbesucht. Auch aus den Nachbarorten kam kaum noch jemand. Er wollte es nicht dem allgemeinen Trend in die Schuhe schieben, schließlich lebten sie hier in Wales, und die Waliser waren schon immer anders gewesen, nein, das hatte einen anderen Grund. Die Leute hier hatten sich durch das Gerede der alten Madge einfach verrückt machen lassen und hatten auch Angst bekommen. Sie glaubten an Gott. Sie waren gute Katholiken, aber sie erinnerten sich auch an die alten Geschichten, in denen immer wieder von den Naturgeistern berichtet wurde, die einmal hier gelebt hatten. Besonders die Nymphen, deren Element das Wasser war. Das gab es hier in Hülle und Fülle. Sogar auf dem Grundstück der Kirche befand sich ein Teich, der von Trauerweiden umstanden war und selbst bei hellem Sonnenlicht stets kalt, unheimlich und abweisend wirkte.
Don Carmacho, den es aus einem spanischen Kloster vor Jahren hierher verschlagen hatte, mußte endlich etwas tun. Er wollte die Menschen von ihrem Aberglauben befreien. Gleichzeitig
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