Der Herr der Ringe
dahinter zu sein schienen. Frodo glaubte ein schwaches Zischen wie von giftigem Atem zu hören und hatte ein Gefühl von durchbohrender Kälte. Dann kamen die Gestalten langsam auf sie zu.
Entsetzen überkam Pippin und Merry, und sie warfen sich flach auf den Boden. Sam wich zurück an Frodos Seite. Frodo war kaum weniger verängstigt als seine Gefährten; er zitterte, als ob er bitterlich fröre, aber seine Angst ging in der plötzlichen Versuchung unter, den Ring aufzustreifen. Das Verlangen packte ihn so, dass er an nichts anderes denken konnte. Er vergaß nicht das Hügelgrab und auch nicht die Botschaft von Gandalf; aber irgendetwas schien ihn zu zwingen, alle Warnungen zu missachten, und es drängte ihn, nachzugeben. Nicht in der Hoffnung, zu entkommen oder etwas zu tun, ob es gut oder schlecht war: Er hatte einfach das Gefühl, er müsse den Ring nehmen und ihn auf den Finger stecken. Er konnte nicht sprechen. Er spürte, dass Sam ihn anschaute, als ob er wisse, dass sein Herr in arger Not sei, aber er konnte sich nicht zu ihm umwenden. Er schloss die Augen und kämpfte eine Weile mit sich; aber er vermochte nicht länger zu widerstehen, und schließlich zog er langsam das Kettchen heraus und ließ den Ring auf den Zeigefinger der linken Hand gleiten.
Obwohl alles wie vorher blieb, düster und dunkel, wurden die Gestalten sofort erschreckend deutlich. Er vermochte unter ihre schwarzen Hüllen zu schauen. Es waren fünf große Gestalten: Zwei standen am Rand der Mulde, drei gingen auf ihn zu. In ihren weißen Gesichtern brannten scharfe und gnadenlose Augen; unter ihren Mänteln trugen sie lange graue Gewänder, auf ihren grauen Haaren Helme aus Silber; in ihren hageren Händen hielten sie Schwerter aus Stahl. Ihr Blick fiel auf ihn und durchbohrte ihn, als sie auf ihn zustürzten. Verzweifelt zog auch er sein Schwert, und ihm schien, als flackere es rot wie ein brennendes Holzscheit. Zwei der Gestalten blieben stehen. Der dritte Reiter war größer als die anderen: Sein Haar war lang und schimmernd, und auf seinem Helm war eine Krone. In der Hand hielt er ein langes Schwert, in der anderen ein Messer; sowohl das Messer als auch die Hand, die es hielt, schimmerten in einem bleichen Licht. Er machte einen Satz vorwärts und sprang auf Frodo zu.
In diesem Augenblick warf sich Frodo nach vorn auf den Boden, und er hörte sich selbst laut rufen: O Elbereth! Gilthoniel! Gleichzeitig führte er einenHieb gegen die Füße seines Feindes. Ein schriller Schrei durchdrang die Nacht, und Frodo fühlte einen Schmerz, als ob ein Pfeil aus vergiftetem Eis seine linke Schulter durchbohrte. Gerade als er in eine Ohnmacht sank, sah er wie durch einen wirbelnden Nebel Streicher aus der Dunkelheit springen mit einem flammenden Holzscheit in jeder Hand. Mit letzter Kraft ließ Frodo sein Schwert sinken, zog den Ring vom Finger und umschloss ihn fest mit der rechten Hand.
ZWÖLFTES KAPITEL
FLUCHT ZUR FURT
A ls Frodo wieder zu sich kam, umklammerte er noch verzweifelt den Ring. Er lag am Feuer, das jetzt hoch aufgeschichtet war und hell brannte. Seine drei Gefährten beugten sich über ihn.
»Was ist geschehen? Wo ist der bleiche König?«, fragte er verstört.
Sie waren so überwältigt vor Freude darüber, dass er gesprochen hatte, dass sie eine Weile nicht antworteten; auch hatten sie seine Frage nicht verstanden. Schließlich erfuhr er von Sam, dass sie nichts gesehen hatten als die undeutlichen, schattenhaften Gestalten, die auf sie zugekommen waren. Plötzlich hatte Sam zu seinem Entsetzen gemerkt, dass sein Herr verschwunden war; und in ebendiesem Augenblick stürzte ein schwarzer Schatten an ihm vorbei, und er fiel hin. Er hörte Frodos Stimme, aber es war, als ob sie aus großer Ferne oder von unter der Erde käme, und sie rief fremdartige Wörter. Sie sahen nichts mehr, bis sie über Frodo stolperten, der wie tot mit dem Gesicht nach unten auf dem Gras lag, sein Schwert unter sich. Streicher befahl ihnen, ihn aufzuheben und in die Nähe des Feuers zu legen, und dann verschwand er. Das war jetzt schon ziemlich lange her.
Offenbar stiegen in Sam wieder Zweifel über Streicher auf; aber während sie noch redeten, kam er zurück und tauchte plötzlich aus den Schatten auf. Sie fuhren zusammen, und Sam zog sein Schwert und stellte sich vor Frodo; aber Streicher kniete sich rasch neben ihn.
»Ich bin kein Schwarzer Reiter, Sam«, sagte er freundlich, »und auch nicht mit ihnen im Bunde. Ich habe versucht
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