Der Herr der Ringe
Nachtigall in der alten Sprache. Viel Leid widerfuhr ihnen später, und lange waren sie getrennt. Tinúviel rettete Beren aus Saurons Verliesen, und gemeinsam bestanden sie große Gefahren, stießen sogar den Großen Feind von seinem Thron und nahmen aus seiner eisernen Krone einen der drei Silmarils, den strahlendsten aller Edelsteine, der Lúthiens Brautgabe an Thingol, ihren Vater, sein sollte. Doch schließlich wurde Beren von dem Wolf getötet, der von Angbands Toren gekommen war, und er starb in Tinúviels Armen. Sie aber wählte die Sterblichkeit und wollte die Welt verlassen, damit sie ihm folgen könne; und so heißt es in dem Lied, dass sie sich jenseits des Trennenden Meeres wiedertrafen, und nach einer kurzen Zeit wandelten sie wieder lebendig in den grünen Wäldern, und vereint überschritten sie vor langer Zeit die Grenzen dieser Welt. So kam es, dass Lúthien Tinúviel als einzige des Elbengeschlechts gestorben ist und die Welt verlassen hat, und die Elben haben jene verloren, die sie am meisten geliebt haben. Aber von ihr stammte das Geschlecht der alten Elbenfürsten unter den Menschen ab. Jene, deren Stammmutter Lúthien war, leben noch, und es heißt, dass ihr Geschlecht niemals aussterben wird. Elrond von Bruchtal gehört zu dieser Familie. Denn der Sohn von Beren und Lúthien war Dior, Thingols Erbe; und dessen Tochter war Elwing die Weiße, die Earendil ehelichte, Earendil, der sein Schiff aus den Nebeln der Welt in die Meere des Himmels segelte, den Silmaril auf der Stirn. Und von Earendil stammen ab die Könige von Númenor, das ist Westernis.«
Als Streicher sprach, beobachteten sie sein fremdartiges, lebhaftes Gesicht, das von der roten Glut des Holzfeuers schwach beleuchtet war. Seine Augen glänzten, und seine Stimme war volltönend und tief. Über ihm war ein schwarzer, gestirnter Himmel. Plötzlich erschien ein bleiches Licht über dem Gipfel der Wetterspitze hinter ihm. Der zunehmende Mond stieg langsam über den Berg, in dessen Schatten sie saßen, und die Sterne über dem Gipfel verblassten.
Die Geschichte war zu Ende. Die Hobbits reckten und streckten sich. »Schaut!«, sagte Merry. »Der Mond geht auf, es muss spät sein.«
Die anderen blickten empor. Gerade als sie das taten, sahen sie auf der Spitze des Berges vor dem Schein des aufgehenden Mondes etwas Kleines und Dunkles. Vielleicht war es nur ein großer Stein oder ein vorspringender Fels, der in dem bleichen Licht hervortrat.
Sam und Merry standen auf und gingen vom Feuer weg. Frodo und Pippin blieben schweigend sitzen. Streicher beobachtete aufmerksam das Mondlicht auf dem Berg. Alles schien ruhig und still, aber Frodo fühlte, wie sich jetzt, da Streicher schwieg, eine kalte Furcht schwer auf sein Herz legte. Er kauerte sich dichter ans Feuer. In diesem Augenblick kam Sam rennend vom Rand der Mulde zurück.
»Ich weiß nicht, was es ist«, sagte er, »aber ich fürchte mich plötzlich. Nicht für Geld und gute Worte würde ich jetzt wagen, aus der Mulde herauszugehen; ich hatte das Gefühl, dass etwas den Abhang heraufkriecht.«
»Hast du etwas gesehen ?«, fragte Frodo und sprang auf.
»Nein, Herr. Ich habe nichts gesehen, aber ich habe nicht angehalten, um zu schauen.«
»Ich sah etwas«, sagte Merry. »Oder ich glaubte jedenfalls, etwas zu sehen – dort drüben im Westen, wo das Mondlicht auf die Ebene fällt hinter dem Schatten der Berggipfel, da glaubte ich, seien zwei oder drei schwarze Gestalten. Sie schienen sich in dieser Richtung zu bewegen.«
»Bleibt dicht am Feuer, das Gesicht nach außen!«, rief Streicher. »Nehmt ein paar von den längeren Stöcken in die Hand.«
Eine Zeitlang saßen sie atemlos da, schweigend und wachsam, den Rücken dem Feuer zugekehrt und in die Schatten starrend, die sie umgaben. Nichts geschah. Kein Ton und keine Bewegung war in der Nacht. Frodo rührte sich, er hatte das Gefühl, er müsse das Schweigen brechen: er sehnte sich danach, laut zu rufen.
»Pst!«, flüsterte Streicher. »Was ist das?«, keuchte Pippin im selben Augenblick.
Über den Rand der kleinen Mulde auf der dem Berg abgewandten Seite spürten sie eher, als dass sie es sahen, wie sich ein Schatten erhob, ein Schatten oder mehr als einer. Sie strengten ihre Augen an, und die Schatten schienen zu wachsen. Bald konnte kein Zweifel mehr sein: Drei oder vier große schwarze Gestalten standen dort auf dem Hang und schauten auf sie herab. So schwarz waren sie, dass sie schwarze Löcher in dem tiefen Schatten
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