Der Herr der Ringe
er. »Lange habe ich gewünscht, die Standbilder von Isildur und Anárion zu sehen, meinen Vorfahren. Unter ihrem Schatten hat Elessar, der Elbenstein, Arathorns Sohn aus dem Hause Valandil, Isildurs Sohn, Elendils Erbe, nichts zu fürchten!«
Dann erlosch das Licht in seinen Augen, und er sprach zu sich selbst: »Ich wollte, Gandalf wäre hier! Wie mein Herz sich sehnt nach Minas Anor und den Mauern meiner eigenen Stadt! Doch wohin soll ich jetzt gehen?«
Die Schlucht war lang und dunkel und erfüllt von dem Geräusch von Wind, stürzendem Wasser und widerhallendem Fels. Sie zog sich etwas nach Westen, sodass zuerst alles dunkel vor ihnen war; doch bald sah Frodo eine hohe Lichtspalte vor sich, die immer größer wurde. Rasch näherte sie sich, und plötzlich schossen die Boote hindurch und hinaus in ein weites, klares Licht.
Die Sonne hatte den Mittagspunkt längst überschritten und strahlte von einem windigen Himmel. Die eingezwängten Fluten ergossen sich in einen langen, ovalen See, den bleichen Nen Hithoel, gesäumt von steilen grauen Bergen, deren Flanken mit Bäumen bestanden waren, während ihre kahlen Häupter kalt im Sonnenlicht glänzten. Am südlichen Ende erhoben sich drei Gipfel. Der mittlere stand etwas vor den anderen und getrennt von ihnen, eine Insel im Wasser, um die der fließende Strom seine blassen, schimmernden Arme schlang. Undeutlich, aber tief tönend trug der Wind ein Dröhnen herüber, das wie fernes Donnergrollen klang.
»Schaut, der Tol Brandir!«, sagte Aragorn und deutete nach Süden auf den hohen Gipfel. »Links erhebt sich der Amon Lhaw, und auf der rechten Seite liegt der Amon Hen, die Berge des Hörens und Sehens. In den Tagen der großen Könige standen Hochsitze auf ihnen, und Wache wurde dort gehalten. Aber es heißt, dass kein Mensch oder Tier jemals den Fuß auf Tol Brandir gesetzt hat. Ehe der Schatten der Nacht fällt, werden wir dorthin kommen. Ich höre des Rauros ewige Stimme rufen.«
Die Gemeinschaft ruhte sich nun eine Weile aus und ließ sich von der Strömung, die durch die Mitte des Sees floss, treiben. Sie aßen etwas, dann griffen sie zu den Paddeln und hasteten weiter. Die Berghänge im Westen versanken im Schatten, und die Sonne wurde rund und rot. Hier und dort kam ein dunstiger Stern zum Vorschein. Die drei Gipfel dräuten vor ihnen, schwärzlich in der Dämmerung. Rauros brüllte mit lauter Stimme. Schon hatte sich die Nacht auf die strömenden Fluten gesenkt, als die Boote endlich den Schatten unter den Bergen erreichten.
Der zehnte Tag ihrer Reise war vorüber. Wilderland lag hinter ihnen. Sie konnten nicht weiter, ohne eine Entscheidung zwischen dem östlichen und dem westlichen Weg zu treffen. Der letzte Abschnitt ihrer Reise lag vor ihnen.
ZEHNTES KAPITEL
DER ZERFALL DER GEMEINSCHAFT
A ragorn fuhr ihnen voran zum rechten Arm des Stroms. Hier auf der westlichen Seite zog sich im Schatten von Tol Brandir eine grüne Wiese vom Fuß des Amon Hen hinunter bis zum Wasser. Dahinter erhoben sich die ersten sanften, baumbestandenen Hänge des Berges, und auch an dem geschwungenen westlichen Ufer des Sees standen Bäume. Eine kleine Quelle sprang lustig herab und speiste das Gras.
»Hier wollen wir heute Nacht rasten«, sagte Aragorn. »Das ist die Wiese Parth Galen: ein schöner Ort einstmals in Sommertagen. Lasst uns hoffen, dass noch nichts Böses hierher gekommen ist.«
Sie zogen ihre Boote auf das grüne Ufer und bereiteten daneben ihr Lager. Sie stellten eine Wache auf, aber von ihren Feinden war nichts zu sehen oder zu hören. Wenn Gollum es verstanden hatte, ihnen zu folgen, dann blieb er jedenfalls unsichtbar. Dennoch wurde Aragorn im Laufe der Nacht unruhig, er warf sich oft im Schlaf hin und her und wachte immer wieder auf. In den frühen Morgenstunden stand er auf und kam zu Frodo, der gerade Wache hatte.
»Warum schläfst du nicht?«, fragte Frodo. »Du bist doch nicht mit der Wache an der Reihe.«
»Ich weiß es nicht«, sagte Aragorn. »Aber ein Schatten und eine Drohung haben mich im Schlaf verfolgt. Es wäre gut, dein Schwert zu ziehen.«
»Warum?«, fragte Frodo. »Sind Feinde in der Nähe?«
»Lass sehen, was Stich uns zeigen mag.«
Frodo zog die Elbenklinge aus der Scheide. Zu seinem Entsetzen schimmerten die Ränder schwach in der Nacht. »Orks!«, sagte er. »Nicht sehr nahe und doch zu nah, scheint es.«
»Das habe ich gefürchtet«, sagte Aragorn. »Aber vielleicht sind sie nicht auf dieser Seite des Stroms. Der Schein von
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