Der Herr der Ringe
Plötzlich merkte er, dass es sehr kalt wurde und hier oben ein Wind zu wehen begann, ein eisiger Wind. Das Wetter schlug um. Der Nebel zog jetzt in Schwaden und Fetzen an ihm vorüber. Seinen Atem sah er wie ein Dampfwölkchen, und die Dunkelheitwar weniger nah und dick. Er schaute nach oben und sah zu seiner Überraschung, dass matte Sterne zwischen eilenden Wolken- und Nebelschleiern durchschimmerten. Der Wind begann über das Gras zu pfeifen.
Ihm war plötzlich, als habe er einen erstickten Schrei gehört, und er wollte ihm nachgehen; und gerade als er sich aufmachte, wurde der Nebel aufgerollt und beiseite geschoben, und der gestirnte Himmel enthüllte sich. Ein Blick zeigte ihm, dass er jetzt mit dem Gesicht nach Süden stand und auf einer runden Bergkuppe war, die er vom Norden her erklommen haben musste. Aus dem Osten blies der schneidende Wind. Zu seiner Rechten ragte gegen die westlichen Sterne ein dunkles schwarzes Gebilde drohend auf. Ein großes Hügelgrab stand dort.
»Wo seid ihr?«, rief er noch einmal, sowohl ärgerlich als auch ängstlich.
»Hier«, sagte eine Stimme, tief und kalt, die aus dem Boden zu kommen schien. »Ich warte auf dich!«
»Nein!«, rief Frodo; aber er lief nicht fort. Seine Knie gaben nach, und er fiel zu Boden. Nichts geschah, und kein Laut war zu hören. Zitternd schaute er hoch, gerade rechtzeitig, um eine hohe, dunkle Gestalt wie einen Schatten gegen die Sterne zu sehen. Sie beugte sich über ihn. Er glaubte zwei Augen zu erkennen, die sehr kalt waren, obwohl sie von einem fahlen Licht erhellt zu sein schienen, das aus weiter Ferne kam. Dann wurde er gepackt, und der Griff war stärker und kälter als Eisen. Die eisige Berührung ließ sein Gebein erstarren, und er erinnerte sich an nichts mehr.
Als er wieder zu sich kam, konnte er sich für einen Moment an nichts entsinnen außer an ein Gefühl des Entsetzens. Dann wusste er plötzlich, dass er eingekerkert war, hoffnungslos gefangen; er war in einem Hügelgrab. Ein Grabunhold hatte ihn mitgenommen, und wahrscheinlich war er jetzt schon unter dem entsetzlichen Bann der Grabunholde, von dem in geflüsterten Erzählungen die Rede war. Er wagte nicht, sich zu rühren, sondern blieb reglos liegen: flach auf dem Rücken auf einem kalten Stein, und die Hände auf der Brust.
Aber obwohl seine Angst so groß war, dass sie geradezu ein Teil der ihn umgebenden Dunkelheit zu sein schien, ertappte er sich dabei, dass er an Bilbo Beutlin und seine Geschichten dachte, an ihre gemeinsamen Spaziergänge auf den Feldwegen im Auenland und ihre Unterhaltungen über Straßen und Abenteuer. Im Herzen auch des fettesten und furchtsamsten Hobbits liegt ein Saatkorn des Muts verborgen (allerdings oft tief) und wartet auf eine entscheidende und ausweglose Gefahr, die es wachsen lässt. Frodo war weder sehr fett noch sehr furchtsam; obwohl er es nicht wusste, hatten Bilbo (und auch Gandalf) ihn für den brauchbarsten Hobbit im Auenland gehalten. Er glaubte, am Ende seines Abenteuers angelangt zu sein, einem entsetzlichen Ende, aber der Gedanke gab ihm Kraft. Er merkte, wie er sich strafftegleichsam zum letzten Sprung; er fühlte sich nicht mehr schlaff wie ein hilfloses Opfer.
Als er da lag und nachdachte und sich wieder in die Gewalt bekam, merkte er mit einem Mal, dass die Dunkelheit langsam verging; ein fahles, grünliches Licht war um ihn. Zuerst ließ es ihn nicht erkennen, an was für einem Ort er war, denn das Licht schien aus ihm selbst zu kommen und aus dem Fußboden neben ihm und hatte das Dach oder die Wand noch nicht erreicht. Er drehte sich um und sah in dem kalten Schimmer, dass Sam, Pippin und Merry neben ihm lagen. Sie waren auf dem Rücken ausgestreckt, und ihre Gesichter waren totenblass; und sie waren ganz in Weiß gekleidet. Um sie herum lagen viele Schätze, vielleicht aus Gold, obwohl sie in diesem Licht kalt und unschön aussahen. Auf ihren Köpfen hatten sie Diademe, goldene Ketten um den Leib und viele Ringe an den Fingern. Schwerter lagen an ihrer Seite und Schilde zu ihren Füßen. Aber über ihren Hälsen lag ein einziges nacktes Schwert.
Plötzlich begann ein Gesang: ein kaltes Murmeln, das anstieg und fiel. Die Stimme schien weit weg zu sein und unermesslich trostlos, manchmal hoch in der Luft und dünn, manchmal wie ein leises Stöhnen vom Boden. Aus dem formlosen Strom trauriger, aber schauerlicher Töne bildeten sich dann und wann Ketten von Wörtern: grimmige, harte, kalte Wörter, herzlos und unglücklich.
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