Der Herr der Ringe
Die Nacht schmähte den Morgen, den sie nie sehen konnte, und die Kälte verfluchte die Wärme, nach der sie hungerte. Frodo war kalt bis ins Mark. Nach einer Weile wurde der Gesang deutlicher, und mit angsterfülltem Herzen nahm er wahr, dass jetzt eine Zauberformel gesungen wurde.
Kalt sei Hand, Herz und Gebein
Kalt der Schlaf unterm Stein:
Nimmer steh’ vom Bette auf,
Eh’ nicht endet der Sonn’ und des Mondes Lauf,
Die Sterne zersplittern im schwarzen Wind,
Und fallen herab und liegen hier blind,
Bis der dunkle Herrscher hebt seine Hand
Über tote See und verdorrtes Land.
Hinter seinem Kopf hörte er ein knirschendes und kratzendes Geräusch. Er stützte sich auf einen Arm und sah nun in dem fahlen Licht, dass sie sich in einer Art Gang befanden, der hinter ihnen um die Ecke führte. Um die Ecke tastete sich ein langer Arm vor, und seine Finger wanderten auf Sam zu, der ihm am nächsten war, und zu dem Heft des Schwertes, das auf ihm lag.
Zuerst war es Frodo, als ob er durch die Zauberformel tatsächlich in Stein verwandelt worden sei. Dann durchzuckte ihn ein wilder Gedanke an Flucht. Er überlegte sich, ob er dem Grabunhold, wenn er den Ring aufsetzte, entgehen würde und den Weg nach draußen finden könnte. Er dachte daran, dass er selbst unerkannt über das Gras laufen und zwar um Merry, Sam und Pippin trauern würde, aber selbst frei und lebendig wäre. Gandalf würde zugeben müssen, dass er sonst nichts hätte tun können.
Aber der Mut, der in ihm erweckt worden war, war jetzt zu stark: Er konnte seine Freunde nicht so einfach im Stich lassen. Er zauderte, tastete in seiner Tasche und focht dann wieder einen Kampf mit sich aus; und derweil kroch der Arm näher. Plötzlich festigte sich sein Entschluss, und er ergriff ein kurzes Schwert, das neben ihm lag, kniete sich hin und beugte sich vor über die Körper seiner Gefährten. Mit aller Kraft, die er hatte, hieb er auf den kriechenden Arm in der Nähe des Handgelenks, und die Hand brach ab; aber im selben Augenblick zersplitterte das Schwert bis zum Heft. Ein Schmerzensschrei ertönte, und das Licht verschwand. Im Dunkeln hörte man ein Fauchen.
Frodo fiel nach vorn auf Merry, und Merrys Gesicht fühlte sich kalt an. Mit einem Mal kam ihm wieder in den Sinn, was er vergessen hatte, seit sie in den Nebel geraten waren, nämlich die Erinnerung an das Haus unten unterm Berg und an Toms Gesang. Er entsann sich des Reims, den Tom sie gelehrt hatte. Mit leiser, verzweifelter Stimme begann er: He, Tom Bombadil!, und kaum hatte er den Namen ausgesprochen, schien seine Stimme lauter zu werden: sie hatte einen vollen und lebendigen Klang, und die dunkle Kammer hallte wider wie von Trommeln und Trompeten.
He, Tom Bombadil! Tom Bombadonne!
Hör den Ruf, eile her, bei Feuer, Mond und Sonne!
Komm, bei Wasser, Wald und Flur, steh uns nun zur Seite!
Komm, bei Weide, Schilf und Ried, aus der Not uns leite!
Plötzlich herrschte tiefes Schweigen, und Frodo konnte sein Herz schlagen hören. Nach einem langwährenden Augenblick hörte er deutlich, aber weit entfernt, als ob sie unten durch die Erde käme oder durch dicke Wände, eine antwortende Stimme:
Tom, alter Bombadil, lustiger Gevatter,
Blaue Jacke hat er an, gelbe Stiefel hat er,
Fing ihn niemals niemand ein, denn er ist der Meister,
Seine Lieder haben Macht über böse Geister.
Ein rumpelndes Geräusch war zu vernehmen, als ob Steine rollten und fielen, und plötzlich strömte Licht herein, wirkliches Licht, das helle Tageslicht. Eine niedrige, türartige Öffnung tat sich am Ende der Kammer hinter Frodos Füßen auf; und da war Toms Kopf (Hut, Feder und alles), umrahmtvom roten Licht der hinter ihm aufgehenden Sonne. Das Licht fiel auf den Boden und auf die Gesichter der drei Hobbits, die neben Frodo lagen. Sie rührten sich nicht, aber die krankhafte Blässe war verschwunden. Sie sahen jetzt aus, als ob sie fest schliefen.
Tom bückte sich, nahm seinen Hut ab, kam in die dunkle Kammer und sang:
Raus hier, übler Wicht! In die helle Sonne!
Schwinde wie der Nebelhauch, heule mit dem Winde,
In die wüsten Lande zieh über alle Berge!
Lass die Grube leer zurück, niemals kehre wieder!
Sei vergessen und verloren, dunkler als das Dunkel,
Wo das Tor verschlossen steht, bis die Welt geheilt wird.
Bei diesen Worten ertönte ein Schrei, und ein Teil des inneren Endes der Kammer stürzte krachend ein. Dann hörte man einen langgezogenen Schmerzensschrei, der in einer unvorstellbaren Entfernung
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