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Der Herr der Tränen: Roman (German Edition)

Der Herr der Tränen: Roman (German Edition)

Titel: Der Herr der Tränen: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sam Bowring
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beantworten, und er hatte die Rolle so lange gespielt, dass er sich selbst kaum Zweifel gestattete. Aber trotzdem hatte er das vage Gefühl, als würde ihm irgendwie ein Streich gespielt.
    Braston lauerte in den weißen Türmen, und Yalenna ebenfalls, so hieß es jedenfalls. Was würden sie von ihm halten? Kümmerte es ihn? Verglichen mit ihm waren sie Kinder – alle waren Kinder verglichen mit ihm –, aber irgendwie dachte er nicht, dass sie ihn als weise und ehrwürdig ansehen würden.
    Er spielte mit dem Gedanken, sich ihnen nicht einmal zu offenbaren. Würden sie ihn wiedererkennen nach all der Zeit? Natürlich würden sie das – für sie war es ja nicht »all die Zeit« gewesen, machte er sich klar. Sie hatten nicht die Jahre hinter sich, die sein Gesicht zu einer umwölkten Erinnerung machen konnten. Noch würde es ohne Weiteres möglich sein, einen schweren Helm zu tragen oder in den Reihen des Heers unterzutauchen, um ein Soldat unter Tausenden zu werden. Sein falscher Name war wohlbekannt, und Braston mit seiner Schwäche für Krieger würde zweifellos den Wunsch haben, den großen Rostigan Schädelspalter kennenzulernen. Außerdem, das musste er zugeben, ein Teil von ihm war … erpicht darauf, sie zu sehen. Vielleicht würden sie von den Veränderungen, die er in sich selbst herbeigeführt hatte, beeindruckt sein. Vielleicht würden sie sich seine Geschichte anhören, die er noch nie zuvor jemandem erzählt hatte. Vielleicht war er zu lange allein gewesen, ein Mann, der am Abgrund schwankte, seinen Traum aufzugeben, und diese beiden waren das einer Familie Ähnlichste, worauf er jemals hoffen konnte.
    Im Gegensatz zu seiner Innenschau wurde die Gruppe immer lebhafter, je näher sie der Stadt kamen. Junge Menschen begleiteten sie jetzt überall, stießen zu denjenigen, die den ganzen Weg mit ihm gekommen waren. Rostigan verlor das Gefühl dafür, wer zu ihrem Haufen gehörte und wer nicht, und es spielte auch keine Rolle mehr. Sie würden alle von Brastons Heer verschluckt werden, und jeder Anspruch, den er auf sie hatte, weil er ihnen mit einer Handvoll Kräutern zu Brot und Stiefel verholfen hatte, war bereits vergessen. Es war niemals sein Haufen gewesen. Er hatte nur getan, worum Tarzi ihn gebeten hatte.
    Cedris vielleicht würde ein sichtbarer Teil seiner Welt bleiben. Der junge Mann war, seit sie einander zum ersten Mal begegnet waren, erpicht darauf gewesen, sich bei ihnen beiden einzuschmeicheln. Er blickte zu Rostigan auf, das war klar, aber sein Interesse an Tarzi war geringer. Offensichtlich musste er wissen, dass er sie nicht haben konnte, doch dieses Wissen schmälerte ihren Reiz für ihn vielleicht nicht. Vielleicht wurde er selbst ihr aber auch nicht gerecht und unterschätzte die Rolle, die sie gespielt hatte – sie war der Katalysator gewesen, der Cedris aus seinem normalen Leben gerissen hatte, und das mochte es sein, was den jungen Mann an die Bardin band. Als er sie jetzt beobachtete – Cedris plauderte aufgeregt, während Tarzi nickte und lächelte –, fragte Rostigan sich, ob er jemals so unbekümmert und glücklich gewesen war.
    Cedris drehte sich um und bemerkte, dass Rostigan sie beobachtete. »Fast da!«, rief er mit einem Grinsen.
    »Ja«, antwortete Rostigan, vor dessen Augen sich die großen, weißen Mauern in all ihrer Breite erstreckten. »Das sehe ich.«
    Der Zustrom verdichtete sich am Südtor. Die Wachen fragten offenbar nicht mehr – wie in normalen Zeiten üblich – einen jeden, weshalb er in die Stadt wolle, und verkündeten stattdessen Anweisungen für alle, die kamen, um sich dem wachsenden Heerbann zuzugesellen. Soweit Rostigan es verstanden hatte, sollten sie sich auf dem Burgplatz melden. Wahrscheinlich würden sie von dort zu einem Lager nördlich der Stadt weitergeschickt. Wie viele waren dem Ruf zu den Waffen gefolgt, dass die Stadt ihnen keinen Platz mehr bieten konnte? Kamen aus anderen Richtungen ebenso viele wie hier? Brastons Aufruf musste wirklich von durchschlagendem Erfolg gewesen sein. Ließ die Angst vor den Entflochtenen die Menschen aktiv werden? Oder waren die Wächter noch so gut in Erinnerung geblieben, dass man ihren Helden ebenso blind folgte, wie man vor ihren Schurken in blankem Entsetzen floh?
    Tarzi nahm seine Hand. Das verblüffte ihn aus irgendeinem Grund. Barden wie ihr war es wohl zu danken, dass die Legende der Wächter am Leben gehalten wurde.
    Falls »danken« das richtige Wort war.
    »Los geht’s«, sagte sie.
    Unter allerlei

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