Der Kuss des Anubis
PROLOG
A lle schienen nur noch zu rennen, als wäre auf einmal der ganze Palast in Bewegung geraten.Türen schlugen auf und zu, knappe Befehle ertönten. Etwas Fiebriges, Ungutes lag in der Luft.
Jetzt wartete sie schon so lange vor dem Raum, in dem ihr Vater verschwunden war, und noch immer war er nicht herausgekommen!
Längst hatte sie aufgehört, die bunten Wandfresken mit ihren Schmetterlingen und Vögeln zu bewundern, und auch die blauen Äffchen, von Ast zu Ast tanzend, so täuschend echt gemalt, als wären sie lebendig, interessierten sie nicht mehr.
Sie wollte nur noch weg von hier, zurück nach Hause, dorthin, wo sie sich endlich wieder sicher und geborgen fühlen konnte.
»Pass doch auf, Kleine!« Ein dunkelhäutiger Mann mit einem großen Wassergefäß wäre beinahe über sie gestolpert. »Hier bist du allen nur im Weg! Kannst du nicht nach draußen gehen, in den Garten? Dort wärst du besser aufgehoben!«
Etwas in seiner Stimme brachte sie dazu, zu gehorchen.
Außerdem stand die Tür offen, die zum Garten führte,
und ein leichter Sommerwind hatte zarte Duftwolken hereingeweht. Sie machte ein paar zögerliche Schritte, dann jedoch zog es sie unwiderstehlich weiter.
Es wurde angenehmer und kühler, je weiter sie kam. Über ihr hohe Bäume, deren Blätter leise raschelten, vor ihr Beete, in denen rote, weiße und blaue Blumen wuchsen. Wie groß und herrschaftlich hier alles war, verglichen mit dem Garten zu Hause!
Zwischen den Blumen entdeckte sie plötzlich eine Katze. Ihr Fell schien im Sonnenlicht zu lodern, so rot war es, während Beine und Ohren dunkler gezeichnet waren. Ohne nach links und rechts zu schauen, strebte die Katze einem niedrigen Busch zu.
Das Mädchen konnte gar nicht anders, als ihr zu folgen.
»Das wirst du schön bleiben lassen!« Woher war auf einmal dieser rundliche Junge mit den abstehenden Ohren gekommen, der sich ihr in den Weg stellte? Er war ein Stück größer als sie, trug die Jugendlocke, die seinen ansonsten rasierten Kopf schmückte, und schaute sie empört an. »Man stört keine Katzenmutter und ihre Jungen!«
»Sie hat kleine Kätzchen?«, rief das Mädchen. »Kann ich sie sehen?«
»Meinetwegen«, sagte der Junge und schob den Busch auseinander. Da lag sie, die Feuerkatze, und an ihren Zitzen tranken vier Junge, zwei flammend rot wie die Mutter, zwei so dunkel, als hätten die Flügel der Nacht sie gestreift.
»Die gehören alle dir?« Vor Aufregung konnte das Mädchen kaum noch schlucken.
»Natürlich«, sagte der Junge. »Und bald wird mir auch alles andere hier gehören.«
Sie verstand nicht, was er damit sagen wollte, aber das war ihr in diesem Moment auch egal. Alles, was jetzt zählte, waren diese flauschigen Fellbündel, von denen ihr eines der roten besonders gut gefiel, weil es ein wenig zerzaust und damit noch niedlicher aussah.
Eine Frage kam ihr in den Sinn: »Würdest du vielleicht …«
Der Junge reckte seinen Hals, legte den Finger auf die Lippen.
»Der Falke ist zum Himmel geflogen!«, hörte sie eine Männerstimme aufgeregt schreien.
»Es ist so weit«, sagte der Junge. »Jetzt ist die Reihe an mir.«
Erst nach einer ganzen Weile schien er sich zu besinnen, dass sie noch immer neben ihm stand.
»Du kannst dir eines aussuchen«, sagte er.
»Ist das dein Ernst?«, fragte sie, beklommen vor Freude. »Darfst du das denn überhaupt?«
»Alles darf ich«, sagte er und in seine Augen kam ein seltsamer Glanz. »Der Falke ist zum Himmel geflogen - und der neue Falke und Pharao von Kemet 1 bin ich!«
ERSTES KAPITEL
D er Falke muss zum Himmel fliegen …«
Was hatte der Mann mit dem messerscharfen Profil da gerade gesagt? Mius Herz machte einen holprigen Satz und schien danach härter gegen die Rippen zu schlagen. Beinahe wäre der Krug mit dem Dattelbier auf dem Boden gelandet, so feucht fühlten ihre Handflächen sich auf einmal an.
Sie hatte diesen Satz niemals vergessen - doch damals hatte er anders geklungen. Und dieser scheinbar winzige Unterschied genügte, um am ganzen Körper Gänsehaut zu bekommen. Trotzdem brachte Miu es fertig, Becher und Krug halbwegs ruhig auf den Tisch zu stellen.
Dann sah sie sich die beiden genauer an.
Die Männer waren mittelgroß und kräftig, mit muskelbepackten Armen und breitem Brustkorb. Soldatentypen, wie sie unwillkürlich dachte, der eine beinahe im Alter ihres Vaters, der andere ihr lediglich ein paar Jahre voraus. Neben dem rechten Nasenflügel des Jüngeren saß eine dunkle Warze, an der
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