Der Herr der Unruhe
blicken lassen.
Das Haus, in dem der Uhrmacher und sein Sohn wohnten wie schon Generationen anderer dei Rossis zuvor, schälte sich aus dem Schatten. Es lag an der nordöstlichen Ecke der Stadtmauer und war mit ihr verwachsen wie ein uralter Baum. Bei unvorbereiteten Betrachtern löste sein Anblick bisweilen Irritationen aus. Zur Via Vespucci hin ragte ein halber mittelalterlicher Rundturm aus dem Gebäude heraus, gemauert aus Ziegeln und Felssteinen und im Gegensatz zum übrigen Haus unverputzt. Über dem Dach erhoben sich wie eine Krone die Zinnen eines zweiten, viereckigen Türmchens. So wie alle übrigen Teile, die jünger als vie r hundert Jahre waren, wies es einen Anstrich auf, der eh e dem hellgelb gewesen sein mochte, inzwischen jedoch fl e ckig geworden war und großflächig abblätterte. Zudem verfügte der architektonische Flickenteppich über ein Sammelsurium unterschiedlichster Fenster, einige vie r eckig, andere dagegen mit Rundbögen versehen. Im Erdg e schoss drang Licht durch die Ritzen der Fensterläden. Hier hatte Emanuele dei Rossi seine Werkstatt, die ihm zugleich als Laden diente.
»Dein Vater arbeitet schon wieder?«, fragte Bruno.
»Er schuftet seit einem Jahr wie ein Verrückter.«
»An der Manzini-Uhr?«
Nico schnaubte verächtlich und nickte. »Bin froh, wenn das Ding endlich aus dem Haus ist.« Massimiliano Manzini war vielleicht der reichste und mächtigste Mann der Stadt, aber gewiss nicht der beliebteste. Sein Name wurde nicht selten in Verbindung mit üblen Machenschaften erwähnt. Freilich hatte man ihm nie eine Gesetzesübertretung nac h weisen können, was an seinen exzellenten Beziehungen zum faschistischen Machtapparat liegen mochte. Er schien sich nicht einmal daran zu stören, dass manche ihn einen skrupellosen Fuchs nannten. Dank seiner Gerissenheit hatte der Sohn eines römischen Steinmetzen sich aus einfachsten Verhältnissen nach oben gekämpft. Sein Einfluss wuchs unentwegt. Manche sahen ihn schon im Palazzo Comunale auf dem Stuhl des Gemeindevorstehers sitzen. Manzini schien von dem Gedanken beseelt, eine Dynastie zu grü n den. Nur zwei Dinge fehlten ihm dazu noch: ein Sohn und die Meisteruhr.
Um die Beschaffung des Ersteren kümmerte er sich hi n gebungsvoll selbst. In der Stadt, die er seit dem Ende des großen Krieges wie der Schatten einer großen Wolke b e herrschte, gab es eine ganze Reihe von Kindern, die ihm wie aus dem Gesicht geschnitten waren. Sehr zur Freude des angehenden Dynasten war mittlerweile sogar Genovefa, seine blutjunge Ehefrau, schwanger – bereits im sechsten Monat, wie es in Nettuno die Spatzen von den Dächern pfiffen. Donna Esmeralda, seine erste Gemahlin, hatte ihm nur eine Tochter geschenkt, inzwischen so um die elf Jahre alt und vom Vater der Obhut eines Schweizer Internats a n vertraut. Die Mutter starb nur wenige Tage, nachdem ihr Gatte zur Erteilung eines besonderen Auftrages in der Werkstatt von Nicos Vater aufgekreuzt war.
Damit die in Planung befindliche Dynastie auch ein sy m bolträchtiges Insigne erhielt, hatte Manzini nämlich vor etwas mehr als einem Jahr bei Emanuele dei Rossi die Meisteruhr in Auftrag gegeben. Was, abgesehen von Gott, hatte er den Uhrmacher gefragt, sei so gewaltig wie die Zeit? Sie beuge die Kraft der Jugend, lasse härtesten Stein zu Staub zerfallen und sei sogar mächtiger als der Raum, der sich unter ihrem Auge – der Uhr – ständig verändern muss, während sie in souveräner Gleichmut dahinfließt. Nico hatte mit dieser Erklärung nicht viel anfangen können, als sein Vater ihm davon erzählte. Erst als der ihm die G e bräuche der Renaissance in Erinnerung rief – Könige und Kaiser hatten sich damals eigene Hof-Uhrmacher gehalten, um sich von ihnen einzigartige, unermesslich kostbare »Augen der Zeit« bauen zu lassen – , dräute ihm, worum es den als ausgesprochen abergläubisch beleumundeten Ma n zini tatsächlich ging. Er wollte die Meisteruhr wie ein Amulett benutzen, um damit den Zeitgeist in seinem Sinne zu beschwören.
»Danke fürs Mitkommen«, flüsterte Nico zum Abschied, als sie das Uhrmacherhaus erreicht hatten.
Unwillkürlich senkte auch Bruno die Stimme. »Soll ich noch mit reinkommen?«
»Besser nicht. Vielleicht kann ich mich unbemerkt in mein Zimmer schleichen.«
»Warum kletterst du nicht wieder durchs Fenster?«
»Weil es jetzt dunkel ist, du Hornochse, und ich mir nicht den Hals brechen will.«
»Ist ja schon gut. Also dann, bis morgen, Nico.«
»Ja.
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