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HalbEngel

HalbEngel

Titel: HalbEngel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tobias O. Meißner
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Der erste von zwölf Rhythmen
     
    Die Musik blendet aus,
    gibt den Geräuschen einer echten Straße Raum.
     
     
    Das Haus sah anders aus, als sie es in Erinnerung hatte.
    Schon von der Straße her, der Straße mit den netten, sauber geschnittenen Parzellen, war ihr etwas an der Fassade aufgefallen, ein neues Leuchten. Jetzt, nachdem sie den schmalen Kiesweg zur Vordertür hinter sich gelassen hatte, sah sie es genauer. Die Vorderfront war frisch geweißt, die Haustür frisch gestrichen, die Türfläche blendend und neu, der Rahmen in einem sehr milden Haselnussbraun.
    Lebkuchenhaus mit frischem Zuckerguss, noch warm und klebrig.
    Und der Klingelknopf hatte nicht einen einzigen Farbspritzer.
    Karens Zeigefinger, der sich dem kleinen Klingelschildchen schon genähert hatte, verharrte und zog sich wieder zurück.
    Karen versuchte sich auszumalen, mit welcher Akribie und Vorausschau jemand beim Renovieren der Fassade den Klingelknopf mit Folie oder Klebeband abgedeckt haben musste. Dieser Sinn fürs widerspenstige Detail war ganz und gar nicht Lauries Handschrift. Und überhaupt der neue Anstrich. Es gab dafür nur zwei mögliche Erklärungen: Entweder hatte Laurie in einem Preisausschreiben den Einsatz einer Malerfirma gewonnen – was aber Leuten im wirklichen Leben nie passierte –, oder aber Laurie und Sam hatten sich wieder zusammengerauft, Laurie und Sam bauten wieder gemeinsam für die Zukunft, Laurie war wieder Barbie, und Ken war wieder zu Hause.
    Das war natürlich ein Tiefschlag. Karen sah sich plötzlich selbst vor dem duftenden Lebkuchenhäuschen stehen, ein staubiger Freak, ein Hausierer, ein besonders schäbiger Versager, hoffend auf einen Bissen vom weichen Inneren, wie sie so dastand mit ihrem abgewetzten Koffer. Aber wie bisher immer, wenn sie sich selbst so gesehen hatte, als einen störenden Fleck in einer harmonischen Komposition, kam da auch dieser Trotz. Sie war jetzt innerlich so weit gekommen, sie war jetzt äußerlich so weit gegangen, hatte so viele Zäune überklettert oder niedergerissen, sie konnte jetzt vor dieser lächerlichen, sauberen, neu lackierten Tür nicht einfach kehrtmachen. Der elektrische Funke sprang. Karen klingelte regelrecht Sturm. Und es kam noch schlimmer, als sie befürchtet hatte: Ein schreiendes Baby echote von drinnen zurück.
    Es dauerte eine Weile, bis Laurie die Tür öffnete, und dann noch mal fast so lange, bis die beiden Schwestern ihren gegenseitigen Anblick verdaut hatten. Karen schmal, blass, entschlossen, in äußerst zerstoßener Kluft, und Laurie in von einem blassrosa Hausmantel kaum verhüllter, weiblicher gewordener Weichheit, mit diesem verdammten sabbernden Baby auf dem Arm.
    »Mein Gott – Karen! Ich glaub’s nicht!«
    »Tja.«
    Bei der nun folgenden Umarmung war das Baby irgendwie zwischen ihnen, trennte und irritierte ihre Körper, aber seine glitzernden Speichelfäden sponnen sie aneinander.
    »Komm rein, komm rein, komm rein, mein Gott, das ist ja, wie wenn der Papst plötzlich vor der Tür steht und ›Yo, Baby!‹ sagt. Es ist Karen, es ist wirklich Karen, die verschwundene, unsichtbare Karen.«
    »Ich war unsichtbar, und du hast dich gezellteilt. Das ist doch dein Baby, oder bist du einfach nur ein besonders einfühlsamer Sitter geworden?«
    »Natürlich ist das meiner, Dummchen. Sag Karen ›Guten Tag‹, Sam.«
    »Sam!?«
    »Na ja, wir wollten erst ›Ethan‹, aber nachdem wir dann gesehen haben, wie ähnlich er Sam ist. Schau dir doch mal die Farbe dieser Augen an. Dieses Blau gibt es nur zweimal auf der Welt. Ja, guck sie dir an. Das ist deine Tante Karen. Der wilde Teil der Familie.«
    Karen wuchtete ihren ausgebeulten Koffer über die Schwelle und schloss die gut geölte Tür hinter sich. Sie machte mit Absicht wenig Anstalten, keine schmutzigen Fingerabdrücke auf dem Zuckerguss zu hinterlassen. »Ist das immer noch derselbe Sam von früher?«
    »Natürlich derselbe Sam, was denkst du denn, mit wie vielen Sams ich zusammen bin.«
    »Der letzte Stand der Dinge zwischen dir und Sam, den ich mitbekommen habe, hörte sich in etwa so an, ich hab es noch ziemlich genau im Ohr: ›Sam ist so eine Art doppelter Evolutionssalto rückwärts, und seinen Dick hat er nur, damit er nicht aus dem Hintern pinkeln muss.‹«
    »Pssst, hältst du wohl den Rand? Willst du, dass der Kleine jetzt schon anfängt, sich über seinen Vater lustig zu machen? Das kommt noch früh genug. Mein Gott, Karen – der letzte Stand der Dinge, den du mitbekommen

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