Der Herr der Unruhe
aus
Wien stand immer noch neben seinem Koffer und blickte in
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Richtung Neptun-Brunnen. Bis ihn jemand in ungläubigem Ton ansprach.
»Nico?«
Der Fremde fuhr herum, als hätte man ihn gerade bei einer verbotenen Tat erwischt. Erschrocken blickte er in das Gesicht des einzigen Passanten, der von den Schaulustigen übrig geblieben war, eines etwa gleichaltrigen jungen Mannes, um einen halben Kopf kleiner als der Besucher, aber kräftig, ohne dabei dick zu sein. Er hatte volles, glattes schwarzes Haar sowie ein jun-genhaftes Gesicht mit einer breiten Nase und einem dicklippigen Mund, der ebenso Erstaunen wie auch Freude ausdrückte.
»Da muss eine Verwechslung vorliegen«, sagte Niklas Michel mit unüberhörbar deutschem, leicht näselndem Akzent. Er bückte sich nach seinem Koffer und wollte sich davonstehlen, aber eine kräftige Hand packte seinen Arm und hielt ihn fest.
»Ich dachte, Nico dei Rossi wäre tot«, flüsterte Bruno Sacchi.
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Außerhalb von Nettuno, 1932
er Regen hatte wieder eingesetzt. Schluchzend stolperte der DJunge durch die Dunkelheit. Wo sollte er hin? Zur Polizei?
Das war keine gute Idee. Obwohl man Manzini allerlei Schurke-reien nachsagte, hatte er angeblich nie auch nur eine Nacht im Gefängnis zugebracht. Er konnte sich fast nach Belieben Polizisten und Richter kaufen. Nico wischte sich mit dem Ärmel Tränen und Rotz aus dem Gesicht. Nein, er durfte nicht länger in Nettuno bleiben. Es gab wohl nichts, das mörderischer war, als sich Don Massimiliano zum Feind zu machen.
Längst hatte er Nettuno in Richtung Westen verlassen. Bis zum Ortsrand von Anzio waren es nur etwa drei Kilometer. In der größeren Nachbarstadt würde er leichter eine Mitfahrgelegenheit finden. Irgendwie musste er es bis nach Rom schaffen, bis zu Meister Davide.
Nicos Vater hatte bei Davide Ticiani die Goldschmiedekunst und das Handwerk der Uhrmacherei gelernt. Die beiden waren mehr als Lehrherr und Geselle gewesen; eine enge Freundschaft hatte sie verbunden, die zuletzt auch Davides Frau und Emanueles Sohn mit einschloss. Mehr als einmal war Nico bei den Ticianis zu Gast gewesen, hatte von Salomias challot gegessen – die geflochtenen, mit Mohn bestreuten, nach ihrem ganz speziellen Rezept gebackenen Schabbatbrote – oder dem Meister in seiner Werkstatt bei der Arbeit zugesehen. Bis dorthin musste er kommen, ohne von Manzinis Leuten geschnappt zu werden, dann
würde es wieder Hoffnung für ihn geben.
Hinter dem Jungen flackerten Lichter auf. Erschrocken fuhr 37
er zusammen. Don Massimiliano kommt mich holen! Der Gedanke drohte ihn erneut zu lähmen, wie es gerade eben geschehen war, als er tatenlos den Mord an seinem Vater mit angesehen hatte.
Von Schuldgefühlen und Furcht geschüttelt, stolperte Nico von der Straße und suchte hinter einer Pinie Deckung. Im Schutz des Baumes spähte er zum Ortsausgang hinüber. Die zwei Scheinwerfer kamen ohne allzu große Eile näher. Er hörte ein Röhren, das wunderbar zu einem asthmatischen Drachen gepasst hätte. Es schwoll an, verlor sich abrupt in einem mechanischen Knacken und gewann erneut an Intensität. Bei jedem knirschenden Schalt-vorgang lief Nico ein Schauer über den Rücken.
»Ein Lastwagen!«, flüsterte er. Würde Don Massimiliano ihn mit einem lahmen Transporter verfolgen? Nico kniff die Augen zusammen und summte seine kleine Melodie. Die Beine hatte er überkreuzt, als müsse er den feuchten Fleck in seiner Hose verde-cken, und er zitterte vor Angst am ganzen Leib. Wenn Manzinis Schläger in dem Fahrzeug waren, würden sie ihn fangen und ihn umbringen wie seinen Vater. Aber falls jemand anderer am Steuer saß …? Zu Fuß konnte er seinen Verfolgern nicht entkommen. Er musste etwas tun, und zwar sofort.
Nico trat auf die Straße hinaus und riss die Arme hoch.
Der schwere Wagen dröhnte immer näher heran. Es hörte sich an, als schöbe jemand eine Ladung Felsbrocken über die Allee.
»Halt!«, schrie der Junge.
Der Laster donnerte weiter.
Nico kniff die Augen zu und summte seine Angst hinaus.
Plötzlich knallte es.
Ein metallisches Kreischen scholl durch die Nacht. Die Bremsen quietschten, als könnten sie das scheinbar Unabwendbare nicht ertragen. Das schwere Fahrzeug schlitterte auf dem regennassen Pflaster auf den Jungen zu.
Und kam etwa einen halben Meter vor ihm zum Stehen.
Die Tür wurde aufgerissen, und ein ebenso großer wie breiter Mann kullerte heraus und keuchte: »Ist alles in Ordnung, Junge?«
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Nico stand da wie in
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