Der Herr der Unruhe
war kaum zu hören. Ohne einen weiteren Gedanken an seine Sicherheit zu verschwenden, rannte er auf die Schaulustigen zu. Sie standen dicht, aber der Junge war feingliedrig und suchte sich seinen Weg wie ein Fisch in einem schlingernden Wald aus Tang.
Endlich erreichte er die Polizisten. Sie hatten sich gegenseitig un-tergehakt, ein Sperrzaun aus Uniformen.
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»Ich will da rein!«, rief Nico dem Erstbesten zu, einem Bullen in Uniform.
»Das geht jetzt nicht«, knurrte der Ordnungshüter, ohne ihn anzusehen.
»Ich muss aber!«
»Ist mir egal. Ich darf niemanden durchlassen.«
Der Junge versuchte eine Lücke zu finden, durch die er hin-durchschlüpfen konnte, aber die menschlichen Zaunpfähle rückten nur noch enger zusammen. »Stimmt es, dass da drin jemand ermordet wurde?«, fragte er.
»Wir haben Befehl, über den Tathergang zu schweigen.«
Nico machte sich seinen eigenen Reim auf die Antwort. »Es ist doch nicht Signor Ticiani, den man erschossen hat?«
Die unbewegte Miene des Polizisten veränderte sich schlagartig. Seine buschigen Augenbrauen glitten aufeinander zu, er beugte sich zu dem Plagegeist hinab und raunte: »Bist du mit ihm verwandt?«
Der Junge zögerte. Weil er einerseits zur Wahrheitsliebe erzogen worden war, andererseits ein Nein als Antwort eher hinderlich einschätzte, bot er dem Polizisten ein »Sozusagen« an.
»Was soll das heißen?«, entgegnete der barsch.
»Davide Ticiani ist … mein Patenonkel. Gewissermaßen.«
Der Beamte grübelte einen Moment darüber nach, dann rich-
tete er sich kerzengerade auf, wandte sich um und rief zu einem Kameraden, der im Hauseingang stand: »Fabrizio, da ist ein Zeuge. Führ ihn zum commissario nach oben.«
Eine schwere Hand legte sich auf Nicos Schulter. Er wurde ins Haus geschoben, die Treppe hinauf, und fühlte sich unterdessen wie der Tatverdächtige Nummer eins. Davide Ticiano lebte in einer geräumigen Wohnung direkt über dem Laden. Sofern er noch am Leben war. Nicos Knie wurden weich. Als er und sein Bewacher das schmale Podest im ersten Stock erreichten, konnte er sich kaum noch auf den Beinen halten.
»Du bleibst hier stehen und rührst dich nicht von der Stelle«, befahl der Polizist und verschwand in die Wohnung, in der es 44
nur so wimmelte von Leuten mit und ohne Uniformen. Es waren ausnahmslos Männer.
Nico schnappte einige Wortfetzen auf, die wie Ascheflocken aus der Wohnung trieben. Sie klangen größtenteils hohl, fast so, als hätte jemand jedes Gefühl aus ihnen herausgequetscht.
»Was für eine Riesensauerei! … Hätte schlimmer kommen
können … Nur zwei … Nur? Es ist ein Kind dabei … Möchte
wissen, wer zu so etwas imstande …«
»Bist du das, Nico?«
Der Junge war wie vom Blitz getroffen. Seit wann konnte er Tote reden hören? Diese Stimme, die wie eine uralte Tür knarrte, gehörte zweifellos dem ganz und gar nicht so alten Goldschmied.
Mit steifem Nacken drehte sich Nico um. Und tatsächlich: Auf der vorletzten Stufe der nach oben führenden Treppe stand Davide Ticiano, so zerbrechlich und zugleich lebendig wie eh und je. Die Enden seines buschigen Schnurrbarts schienen tiefer als sonst nach unten zu hängen.
»Ich weiß, was du jetzt denkst«, sagte betrübt der Mann, der mit edlen Metallen genauso geschickt umgehen konnte wie mit winzigen Zahnrädern, Zapfen, Ankern und Spiralen.
Nico deutete verständnislos auf die offene Tür. »Aber das ist doch deine Wohnung, Onkel Davide.«
Der dunkelhaarige Goldschmied nickte traurig. »War, mein
Junge. Es war die Wohnung, in der ich mit meinen Eltern und Lea, meiner großen Schwester, aufgewachsen bin. Aber seit der Wirt-schaftskrise halten die Leute ihr Geld zusammen, und das Geschäft läuft nicht mehr so gut wie früher. Salomia und ich sind vor ein paar Tagen unters Dach gezogen und haben die große Wohnung an die Familie Carlotti vermietet. Feliciano war in deinem Alter.«
Ein neuerlicher Schauer ließ Nico erbeben. »Feliciano?«, flüsterte er.
Davide nickte. Sein schmales Gesicht war aschfahl. »Ein
aufgeweckter Junge. Sie haben ihn und seinen Vater regelrecht geschachtet, ihnen einfach die Kehlen durchgeschnitten. Kannst du dir so etwas vorstellen?«
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Der Junge hatte das Gefühl, sich langsam, aber sicher in einen Eiszapfen zu verwandeln. »Auf der Straße … Da … da war ein Mann … Er hat gesagt, hier ist jemand erschossen worden.«
Davide kam das letzte Stück die Treppe herunter und legte seinen Arm um die Schulter des Jungen.
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