Der Herr der Unruhe
man ja auch mich gerufen, Signor Bulbo, nicht wahr?«
Der Kontrolleur grunzte etwas, das sich Nicos Verständnis entzog.
Der Maschinenarzt setzte seine Untersuchung seelenruhig
fort. Was er dabei fühlte, ist für jemanden, dem seine Begabung fehlt, schwer nachzuvollziehen. Nur wenige Menschen sind in der Lage, richtig zuzuhören. Manche Taubheit ist anerzogen. Oft überschreien innere Stimmen immerfort die leisen Zwischentöne.
Wer daran krankt, der hat zu lange zugehört, ohne nachzusinnen, was jeden Geist spröde macht. Dann hausen in den Sprüngen und Rissen, grauen Maden gleich, Vorurteile, die unablässig lärmen, während sie langsam das Urteilsvermögen ihres Wirts zerfressen.
Obwohl noch jung, hatte Nico in seinem Leben zu viel gesehen und gehört, um sein Denken auf Weniges zu beschränken. Aber das allein mag als Grund nicht ausreichen, um seine Wahrneh-mungen in diesem Moment zu erklären.
Es glich einem Flüstern. Nichts, das man mit dem Ohr hören konnte. Selbst die Berührung der Maschine diente nur der Verstärkung dessen, was er ohnehin in ihrer Nähe spürte. Wie ein Blinder, der in sechs erhabenen Punkten einen Buchstaben erkennen und sich aus Hunderten solch winziger Hügel ein ganzes Univer-127
sum erschließen kann, tauchte er in das Wesen der Maschine ein.
Er las in ihren Erinnerungen, hörte von ihren Sorgen und witterte den Hauch ihrer Zukunft. Der Leblosen Liebling hatte sich schon mit allen möglichen Apparaten ausgetauscht, aber keiner war bisher so geschwätzig gewesen wie diese Telefonvermittlungsanlage.
Irgendwie lag das wohl auch in ihrer Natur.
Allmählich kam er der Ursache des Problems auf die Spur.
Anscheinend hatte der »Krankheitsherd« eine Art Kettenreaktion ausgelöst und dadurch fast die ganze Anlage in einen Zustand der Schizophrenie gestürzt. Sie stand gewissermaßen neben sich und sah sich dabei zu, wie sie wohlgewählte Telefonnummern in Zufallszahlen verwürfelte. Einzelne Schaltkreise funktionier-ten noch. Als Nico mit Ring- und Mittelfinger einem von ihnen nachspürte, wurde das Flüstern lauter. Seine Hand zuckte zurück.
Noch nie hatte er die Stimmen eines Apparats derart intensiv gehört. Schnell kehrten seine Fingerkuppen zu den beiden Kontakten zurück.
Unglaublich! Das waren richtige Worte. Doch er konnte ihre Bedeutung bestenfalls erahnen, das Gewisper war zu leise, um es deutlich zu verstehen. Hatte sich da eben jemand von einem anderen verabschiedet? Plötzlich herrschte Stille in der Leitung.
Vielleicht versuchte der Glückspilz es ja gleich noch mit einem zweiten Telefonat. Nico streckte dem Beamten die Hand entgegen, ohne den Blick von der bewussten Stelle zu nehmen.
»Kann ich mal einen Hörer haben?«
»Einen Hörer ?«
»Ich habe mal in einem Magazin gelesen, dass es in solchen Vermittlungszentralen Kopfhörer mit angebauten Mikrofonen gibt, die von Technikern zur Kontrolle der Leitungen benutzt werden.«
»In einem Magazin? Sind Sie sicher, dass Sie das Problem in den Griff bekommen können, Signor Michel?«
Endlich sah Nico den Beamten offen an. »Sind Sie sicher, dass Sie kein Papagei sind, Signor Bulbo?«
»Nein … Ich meine: Ja! Da bin ich ziemlich sicher. Und ich 128
werde ganz bestimmt nicht erlauben, dass Sie in irgendwelche Gespräche hineinhören.«
»Als ob die Geheimpolizei das nicht alle naselang täte.«
»Was haben Sie da eben gemurmelt?«
Nico deutete kurz hintereinander auf fünf oder sechs ver-
schiedene Relais. »An diesen Stellen war kürzlich ein Hörer angeschlossen. Es ist frühestens vor vier Tagen gewesen, spätestens gestern Morgen, zumindest aber bevor das Netz anfing, verrückt zu spielen. Ich frage mich also, wozu jemand da in die Leitungen gelauscht hat.«
Bulbo wurde blass. »Das ist unmöglich!«
»Ich versichere Ihnen, dass meine Diagnose stimmt.«
Der Beamte schüttelte nervös den Kopf. »Nein, ich meine,
selbst wenn es stimmen würde, wäre es unmöglich, dass Sie so etwas wissen können. Ich hab ja schon eine Menge von Ihrer Begabung gehört, aber das schlägt dem Fass den Boden aus.«
Nico seufzte. »Da gibt es eine festgefressene Pumpe, die sehn-süchtig auf mich wartet, Signor Bulbo. Wie machen wir nun weiter? Soll ich den Podestà fragen, warum man in seiner Gemeinde ein funktionierendes Telefonnetz abhören, aber ein zusammengebrochenes nicht anrühren darf?«
Der Leiter der Vermittlungsstelle starrte sein Gegenüber mit versteinerter Miene an. Nico hätte, gemessen an dem, wie
Weitere Kostenlose Bücher