Seelensunde
1. KAPITEL
Unterwelt, im Reich Sutekhs
A lastor Krayl hob die rechte Fußspitze und stoppte elegant wie ein Profifußballer mit einem teuren, nach Maß gefertigten italienischen Schuh das Runde, das über den Sandsteinboden auf ihn zugerollt kam. Die Kugel war nicht komplett rund. Ein Stumpf ragte wie ein Apfelstiel heraus, wo der Schädel vom Rumpf abgetrennt worden war.
Die Wunde sah hässlich aus. Es schien, als sei der Kopf vom Körper abgedreht worden, so wie man eine Flasche mit Schraubverschluss öffnet. Das wenige Blut war bereits getrocknet, was darauf hinwies, dass die Enthauptung schon etwas zurücklag. Einen Tag mindestens, vielleicht zwei.
Der Anblick des kahlen Kopfes mit einem dichten stahlgrauen Haarkranz rief in Alastor zunächst keine Erinnerung hervor. Mit der Sohle drehte er den Schädel auf die Seite und war dann doch überrascht, als er die Gesichtszüge erkannte. Übermäßig breite Stirn, kleine Augen, Habichtsnase.
„Gahiji.“ Es war Alastors ältester Bruder Dagan, der den Namen voller Abscheu aussprach.
„Oh, er ist tot?“ Malthus, der zweitälteste, war hinzugetreten.
„Sieht ganz danach aus“, meinte Alastor trocken.
Gahijis erster Tod, oder genauer gesagt das Ende seiner sterblichen Existenz, lag bereits zweitausend Jahre zurück. Darauf war er in Sutekhs Reich in der Unterwelt gekommen und hatte hier seine zweite Karriere als Reaper, als Seelensammler, begonnen – die nun offensichtlich ein jähes Ende gefunden hatte. Eine neue gab es für Gahiji nicht. Er war ausgelöscht.
„Wer von euch war es?“, fragte Alastor seine Brüder, während er sich bückte und den Schädel aufhob. Er hätte Gahiji selbst gern den Kopf von den Schultern gerissen. Das wäre eine angemessene Strafe für den Verrat gewesen, den Gahiji begangenhatte. Aber er hätte den alten Seelensammler nicht getötet, bevor er nicht alles über Lokans Schicksal aus ihm herausgequetscht hätte.
Alastor, Malthus und Dagan blieb nicht mehr viel Zeit, die Seele ihres ermordeten Bruders Lokan, sein Ka, zu finden. Keiner von ihnen wusste, in welchem Teil des Totenreichs es sich befand. Die Brüder hatten zwar einen übersinnlichen Draht zueinander und spürten selbst auf weite Entfernungen, wenn sich einer von ihnen in Gefahr befand und Hilfe brauchte. Aber zu Lokan war der Kontakt abgerissen.
„Ich war es leider nicht“, antwortete Dagan tonlos und blickte mit seinen grauen Augen mitleidlos auf den Schädel, den Alastor in der Hand hielt.
„Und du, Mal?“
Der andere Bruder schüttelte nur wortlos den Kopf und zuckte die Schultern.
Es blieb nur noch einer. Alastor wandte sich seinem Vater Sutekh zu, der ein Stück entfernt am anderen Ende des lang gestreckten Raums saß, in dem sie sich in engstem Familienkreis versammelt hatten.
Sutekh, mächtigster Gott der Unterwelt, auch bekannt als Seth, Set, Seteh, Herr der Wüste, Herr allen Übels, Lord of Chaos, der Doppelt Gewaltige.
Für die Brüder war er ihr Dad, auch wenn nur Alastor ihn wirklich so nannte. Die anderen zogen es vor, derlei Vertraulichkeiten, selbst wenn sie nur oberflächlich waren, zu meiden. Es schien, als wollten sie damit die Blutsbande zu ihrem Vater leugnen. Mit anderen Worten: Das Verhältnis zwischen Vater und Söhnen war tief gestört.
Sutekh wirkte vollkommen unbeteiligt. Da er seine äußere Gestalt aussuchen konnte wie andere Leute die Kleider im Schrank, hatte er sich an diesem Tag für die eines jungen ägyptischen Pharaos entschieden. Sein dunkler Teint ging ins Olivfarbene. Der Kajalstrich ließ seine Augen noch dunkler und größer erscheinen. Ein schmaler Bart schmückte sein Kinn,und der in Falten gelegte Kopfschmuck umrahmte sein Gesicht. Sutekhs Aufmachung im traditionellen weißen Königsgewand zeigte, dass sie sich hier nicht zum Vergnügen trafen. Es gab etwas zu besprechen.
Malthus schaute sich gelangweilt um. „Gibt es eigentlich einen Grund dafür, dass wir uns hier treffen und nicht wie üblich in deinem Audienzsaal?“
„Gahiji war ein Verräter“, stellte Sutekh fest, ohne die Frage direkt zu beantworten.
Die Aussage war zweifellos richtig.
Gahiji war dabei gewesen, als Lokan das auf den Kopf gestellte Isiszeichen, das mit Flügeln und Hörnern versehene Ankh, auf die Brust tätowiert worden war. Es war das Zeichen der erklärten Feindin Sutekhs. Gahiji, dieser Bastard, hatte auch zugesehen, wie Lokan gehäutet und in Stücke gehauen worden war. Möglicherweise hatte er nicht nur zugesehen, sondern
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