Der Herr der Welt
Lilith?«
Chiyoda deutete sein Nicken nur an. In den an tiefe Brunnenschächte erinnernden Augen des alten Mannes, der den Wolf in sich seit einer unglaublich langen Zeit schon in Schach hielt, schien ein düsteres Feuer aufzuglimmen.
»Mit Lilith«, bestätigte er.
Und Nona erinnerte sich an die letzte Begegnung mit Lilith. Vor der Vision. Im Dschungel Yucatans hatte Nona dem Zwitter aus Mensch und Vampirin gegenübergestanden und nach Hinweisen geforscht, daß es stimmte, was der Teufel ihr ins Ohr geflüstert hatte:
Lilith Eden, so hatte Gabriel sie wissen lassen, sei vergiftet vom Bösen und habe die Seiten gewechselt .
Sie fragte Chiyoda, ob es wahr sei.
»Es spielt keine Rolle, ob sie dem Bösen verfallen oder immer noch eine Streiterin dagegen ist«, ermahnte er Nona eindringlich. »Selbst wenn sie in der Schuld des Satans stünde, wie es bei Landru und dir der Fall ist, bedeutet das nicht, daß sie Anums Ziele unterstützt. Im Gegenteil .«
Nona räusperte sich, holte tief Luft und fragte: »Was weißt du über meine Rolle? Inwiefern bin ich dem Satan verpflichtet?«
Chiyoda unterbrach den Blickkontakt zu ihr jäh. Er sah zu Boden und machte Anstalten, sich abzuwenden. Doch er hielt noch einmal inne und sagte: »Ich wünschte, ich wüßte selbst etwas über dieses Wesen, in dem sich das Böse von jenseits der Schwelle manifestiert hat. Aber alles, was mit dieser dunklen Macht zu tun hat, liegt hinter dichtem Nebel. In all den Zukünften, parallelen Wirklichkeiten und Traumwelten, in denen ich zu Hause bin, die mir offenstehen, trägt Er eine Maske, die auch ich nicht durchschaue. Ich weiß nicht, warum. Die Vampire und ihr Wirken sind ein Buch, in dem ich lesen kann. Aber das Urböse, der ewige Widersacher des Schöpfers aller Welten, agiert im Verborgenen. Ich sehe nur die Saat, die es streut. Ich sehe nur das Verderben, das es pflanzt. Aber Ihn - und das, was ihn mit dir verbindet - sah und sehe ich nie .«
Wie ein alter, gebeugter, seinem Ende naher Mann verließ Chiyo-da die Unterkunft im Sanktuarium. Den Raum, in dem er Nonas Geist wie ein Senkblei in die drohende Endzeit hinabgelassen hatte. Nona unternahm keinen Versuch, ihn zurückzuhalten. Sie wollte allein sein.
Ein Zentnergewicht lastete auf ihrer Seele.
Die Zukunft, deren Gesicht sie mitgestalten konnte ... und mußte.
ENDE
Nachtleben
Leserstory von Heike Gleich
Wissen Sie, eigentlich gehöre ich zu der Art von Leuten, denen nie etwas Außergewöhnliches widerfährt. Es gibt Typen, die praktisch jeden Tag in einen lebensgefährlichen Autounfall verwickelt werden oder sich irgendwelche neu aufgetretenen Krankheiten einfangen, gegen die erst in letzter Sekunde ein Gegenmittel entdeckt wird. Mir ist einmal ein Spielzeuglaster über den großen Zeh gefahren -schrecklich aufregend, nicht wahr?
Es ist ja nicht so, daß ich mir tatsächlich gewünscht hätte, mit den Schlagzeilenlieferanten dieser Welt zu tauschen, aber einen oder zwei echte Unglücksfälle, die natürlich um Haaresbreite doch noch gut ausgehen sollten, habe ich mir insgeheim oft herbeigesehnt.
Anscheinend muß irgend jemand - oder irgend etwas - mich dabei gehört haben, wie ich mein ruhiges Leben verfluchte. Und offensichtlich hat diese Macht einen etwas eigenwilligen Sinn für Humor.
Ich war gerade zwanzig geworden, als ich mit einigen Freundinnen nach Australien flog. Das war etwas, das ich bereits seit Jahren hatte tun wollen, aber bisher hatte meine traurige Finanzlage mir immer wieder einen Strich durch die Rechnung gemacht. Jetzt endlich hatte es geklappt, und ich schwelgte in dem Gefühl, endlich das große Abenteuer gefunden zu haben.
Wie recht ich damit hatte, wenn auch auf eine gänzlich andere Art und Weise, sollte ich nur zu bald erfahren.
Nach vier Wochen hatten meine Begleiterinnen genug von Autostopp und Jugendherbergen und flogen nach Deutschland zurück. Ohne mich! Meine Semesterferien waren noch lange nicht vorbei, und ich hatte nicht vor, früher als unbedingt nötig in den ereignislo-sen Alltag zurückzukehren.
Ja, und irgendwann landete ich dann in diesem kleinen Nest im Nirgendwo. Fragen Sie mich bloß nicht, wie ich dort hinkam, denn das kriege ich beim besten Willen nicht mehr zusammen. War es eine Reifenpanne, oder habe ich mich ganz einfach aus einer Laune heraus von meinem derzeitigen Fahrer verabschiedet? Ich glaube, daß mir zu diesem Zeitpunkt die heiße Sonne des australischen Sommers schon das Gehirn verbrannt haben muß.
Ich stand
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