Der Herr von Moor House
wusste sie, welch herzhaften Appetit der Gentleman besaß, was seine Leibesfülle deutlich bekundete.
Lavinia schaute sich um und entdeckte ihre Tochter, die mit Sophie auf einem Sofa saß. Angeregt unterhielten sich die beiden Mädchen. “Wie schön, dass Ihre Nichte Gefallen an der Party findet, Megan! Ich vertrete keineswegs die Ansicht, man müsste sich an die lächerlichen Regeln der Trauerzeit halten. Ist es nicht schlimm genug, jemanden zu verlieren, den man geliebt hat? Muss man sich auch noch in der Einsamkeit vergraben?”
Megan war froh, weil ihre eigene Meinung geteilt wurde. In Lavinia Fortescue hatte sie eine verwandte Seele gefunden. “Das denke ich auch. Solange man nicht an ausgelassenen Festivitäten teilnimmt, sehe ich keinen Grund, warum man auf menschliche Gesellschaft verzichten sollte. Man kann auch trauern, ohne im stillen Kämmerlein zu sitzen.”
Sichtlich entzückt, stimmte Lavinia ihr zu und begutachtete Sophies hübsches Kleid. “Es wäre wirklich unpassend, die junge Dame in Schwarz oder Grau zu hüllen. Zweifellos steht ihr diese Farbe viel besser.”
“Mitternachtsblau. Davon bin ich auch ganz begeistert. Wenn ich ins Haus meiner Schwester zurückkehre, werde ich mir ein ähnliches Kleid machen lassen.”
Megan hätte sich gern noch länger mit Lavinia unterhalten, die ihr immer sympathischer wurde. Doch sie musste die Pflichten der Gastgeberin erfüllen und mit anderen Damen plaudern. Widerstrebend entschuldigte sie sich und wechselte mit jedem weiblichen Gast ein paar Worte. Einige Frauen hatte sie erst an diesem Abend kennengelernt.
“Welch eine versierte Gastgeberin Sie sind, meine Liebe!” lobte Mrs Gardener, als Megan sich zu ihr aufs Sofa setzte und eine Tasse Tee trank. “Wenn man Ihnen zuschaut, glaubt man, das alles wäre ein Kinderspiel. Natürlich weiß ich, dass es nicht so ist. Glücklicherweise konnte Christian Sie veranlassen, diese Rolle zu übernehmen.”
Hatte ich denn eine Wahl, fragte sich Megan ironisch und dachte an das Gespräch vor der Dinnerparty, bei dem sie die Wahrheit über Christians Cousine erfahren hatte.
Anders als Megan vermutet hatte, war Mrs Gardener keineswegs von seiner Großzügigkeit abhängig. Sie mochte nicht reich sein, besaß aber immerhin ein Haus und anscheinend genug Geld, um komfortabel zu leben. “Als ich erfuhr, dass Sie bald abreisen, war ich ziemlich überrascht”, gestand sie.
“Es wäre mir unangenehm, Christians Gastfreundschaft noch länger zu beanspruchen. Nach der beklagenswerten Feuersbrunst bot er mir Zuflucht in Moor House an, und sobald mein geliebtes Heim wieder instand gesetzt ist, möchte ich meinem Vetter nicht mehr zur Last fallen. Es gibt keinen hilfsbereiteren Mann, und er wollte sogar die Reparaturarbeiten bezahlen, was ich natürlich ablehnte. Diese Kosten kann ich sehr gut selbst bestreiten. Und während meines Aufenthalts in Moor House habe ich Vorhänge für alle meine Schlafzimmer genäht.”
Obwohl Megan der netten Frau das Vergnügen gönnte, demnächst in ihr vertrautes Haus zurückzukehren, überlegte sie beunruhigt, wer Sophie betreuen sollte. Bis zu Mrs Gardeners Abreise würde Christian wohl kaum genug Zeit finden, um eine passende Anstandsdame zu engagieren.
“Irgendetwas scheint Sie zu bedrücken, meine Liebe”, meinte Mrs Gardener, der Megans gerunzelte Stirn nicht entging. “Sind Sie unzufrieden mit unserer Dinnerparty? Daran gibt es gewiss nichts auszusetzen.”
“Oh nein, das ist es nicht …”, seufzte Megan und stellte ihre leere Teetasse auf ein Tablett. “Ich frage mich nur, welche Anstandsdame meine Nichte betreuen wird. Auch ich möchte bald abreisen, spätestens in einer Woche. Und bevor ich nach Somerset zurückkehre, möchte ich Sophie gut versorgt wissen.”
“Leider hat mich mein Vetter nicht ins Vertrauen gezogen. In meiner Gegenwart wurde dieses Thema nie erwähnt.”
“Gibt es in Ihrer Verwandtschaft eine Frau, die sich zur Anstandsdame eignen würde?”
“Auf Seiten der Blackmores nicht”, antwortete Mrs Gardener, nachdem sie eine Weile nachgedacht hatte. “Und was Christians Familie mütterlicherseits betrifft – da wäre eine unverheiratete Tante namens Henrietta Christian … Nein, sie kommt wohl kaum infrage. Immerhin ist sie mindestens siebzig und angeblich etwas merkwürdig.” Lächelnd fügte sie hinzu: “War das nicht eine wunderbare Idee von Christians lieber Mama, ihren ältesten Sohn nach ihrem Nachnamen zu nennen?”
“Oh ja”,
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