Der Herr von Moor House
Verhalten ihrer neuen Dienerin ein Ärgernis, und sie hätte ihr gekündigt, wäre Megan nicht ins Haus gezogen.
Im Gegensatz zu Charlotte störte sie Betsys unverblümte Art nicht, und so fragte sie ihre Schwester, ob sie die Frau als Zofe engagieren dürfe. Diese Tätigkeit war für Betsy völlig neu. Trotzdem bewies sie erstaunliche Fähigkeiten und erfüllte auch komplizierte Aufgaben einwandfrei.
“Geschieht in diesem Haus irgendetwas, das die Dienstboten nicht sofort mitbekommen?”, seufzte Megan.
“Nicht viel, Miss Megan”, kicherte Betsy. “Wollen Sie sich umziehen, bevor Sie Ihren Besucher empfangen?”
“Ja, das wäre ratsam. Geben Sie mir das schwarze Crêpekleid. Ich möchte einen guten Eindruck machen.”
“Das würden Sie auch schaffen, wenn Sie nicht wie eine Witwe aussehen.” Betsy nahm das gewünschte Kleid aus dem Schrank. “Sicher fällt es Ihnen nicht leicht, den Mann wiederzusehen. Aber es lässt sich nicht vermeiden.”
“Leider nicht”, bestätigte Megan widerstrebend und schlüpfte in das Kleid, das sie nur eine Woche lang getragen hatte, nachdem die Nachricht vom Tod ihres Bruders eingetroffen war.
Charlotte war entsetzt über die Weigerung ihrer Schwester gewesen, die vorgeschriebene Trauerzeit einzuhalten. Vergeblich versuchte sie, Megan umzustimmen, die solche Konventionen lächerlich fand. Sie meinte, Sophie sollte ebenso wenig gezwungen werden, sich wochenlang schwarz zu kleiden, was ihr nicht stand. Andere gedeckte Farben würden den gleichen Zweck erfüllen.
“Heute Morgen habe ich Sophie nicht gesehen, bevor sie zu ihrer Freundin ging”, bemerkte Megan. “Was hat sie denn an?”
“Das blaue Samtkleid mit der passenden Pelisse.” Betsy schloss die Knöpfe am Rücken ihrer Herrin. “Sehr respektabel.”
“Gut. Dann muss sie sich nicht umziehen, wenn sie zurückkommt. Als der Brief ihres Vormunds aus dem Gasthof hierher gebracht wurde, hatte sie das Haus schon verlassen. Aber meine Schwester wird ihr sicher entsprechende Hinweise geben. Wahrscheinlich werden die Nerven unserer armen Nichte flattern. Wie auch immer – sie hat nichts zu befürchten. Mr Blackmore ist kein Unmensch.” Als Megan im Spiegel über dem Toilettentisch dem skeptischen Blick ihrer Zofe begegnete, versicherte sie: “Das ist er wirklich nicht, Betsy, ganz egal, was Sie vielleicht gehört haben.”
“Ich bilde mir meine eigene Meinung über die Leute, Miss, und ich muss sagen, er hat Sie ziemlich schäbig behandelt. Andererseits hat alles, was in unserem Leben passiert, einen Sinn, und so war es vielleicht gut, dass Sie den Mann nicht geheiratet haben.”
“Mag sein”, erwiderte Megan tonlos, verließ das Zimmer und stieg die Treppe hinab.
Im Kamin des Salons knisterte ein helles Feuer, und Megan sank in einen der Lehnstühle, die davor standen. Scheinbar ruhig und gelassen, griff sie nach ihrer Stickerei. Genau diesen Eindruck wollte sie erwecken. Niemals würde sie sich anmerken lassen, wie heftig ihr Herz pochte.
Während die Uhr auf dem Kaminsims zwölf Mal schlug, klopfte es an der Haustür, und Megan zuckte unwillkürlich zusammen. Pünktlich auf die Minute, dachte sie und zwang sich wieder zur Ruhe. Gleich darauf wurde die Tür geöffnet, der Lakai meldete den Besucher an, und der Mann, den sie nie wieder zu sehen gehofft hatte, kam herein, den Kopf hoch erhoben.
Was sie nicht wusste – er fühlte sich genauso unsicher wie sie, und seine stolze Haltung war nur ein Täuschungsmanöver, das er beim Anblick der exquisiten Schönheit vor dem Kaminfeuer kaum fortzusetzen vermochte. Das rundliche Gesicht der Jugend hatte klassisch schönen Zügen mit hohen Wangenknochen und einem eigenwilligen Kinn Platz gemacht. Nur die großen kornblumenblauen Augen und die kastanienroten Locken waren unverändert.
Megan beurteilte ihn weniger schmeichelhaft. Genau wie Mr Metcalf stellte sie fest, dass die Zeit wenig freundlich mit ihm umgegangen war. Er wirkte müde, ein Mann, der trotz seines Reichtums keine Freude am Leben fand. Drückte die bittere Miene immer noch Trauer um seine verstorbene Frau aus?
Anmutig erhob sie sich, erstaunt über das Mitleid, das sie plötzlich empfand. Doch dieses Gefühl wurde von Christians abschätzendem Blick im Keim erstickt, als sie langsam auf ihn zuging. Er musterte sie mit den Augen eines erfahrenen Frauenkenners. So hatte er sie seinerzeit niemals angeschaut. Nun erregte sein Verhalten den unangenehmen Verdacht bei ihr, Charlotte könnte recht
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