Der Herr von Moor House
empfange”, fuhr Megan fort.
“Das kannst du nicht ernst meinen!”, rief Charlotte ungläubig.
“Am liebsten würde ich ihn überhaupt nicht sehen. Leider habe ich keine Wahl. Und wenn ich ihn auch nicht mit offenen Armen aufzunehmen gedenke – ich werde ihm höflich begegnen. Vielleicht ist er dann eher bereit, Sophie noch eine Weile bei uns zu lassen.” Nach einem kurzen Blick auf den Brief, der neben ihrem Teller lag, erklärte sie: “Er steigt im ‘Swan’ ab. Mittags wird er hierherkommen. Du wolltest heute Vormittag ins Pfarrhaus gehen. Diesen Besuch solltest du nicht absagen. Aber ich wäre dir dankbar, wenn du Sophie aus dem Haus ihrer Freundin abholen und um halb eins hier eintreffen würdest. Dann kann ich vorher eine halbe Stunde allein mit Christian reden.” Megan stand auf. “Und ich bitte dich, Charlotte – versuch deinen Groll gegen ihn nicht zu zeigen. Sophie erinnert sich nur dunkel an ihn, und sie soll sich ihre eigene Meinung bilden.”
Ohne eine Antwort abzuwarten, eilte Megan in die Halle und stieg die Treppe zu ihrem Zimmer hinauf. Angstvoll dachte sie an die unangenehme Begegnung, die immer näher rückte. Ihrer Schwester würde es nicht schwerfallen, Christian gegenüber zu verbergen, was sie empfand. Und sie selbst? Es war ihr gutes Recht, den Mann zu verabscheuen, der ihr die Ehe versprochen und sie dann so schmählich im Stich gelassen hatte.
Bedrückt trat sie ans Fenster ihres Schlafzimmers und schaute zur Straße hinab. Aber sie sah nicht die Stadtbewohner, die an diesem trüben Tag Ende November vorbeigingen, in warmen Mänteln vor der Kälte geschützt, sondern Bilder aus der Vergangenheit. Wie jung war sie damals gewesen, so unbeschwert, so naiv und vertrauensvoll.
Nur allzu deutlich erinnerte sie sich an die schreckliche Pockenepidemie, die Dorset heimgesucht und ihre Eltern das Leben gekostet hatte. An jener Krankheit starb auch Christians Mutter, und so wurden die beiden Kinder durch das gemeinsame Erlebnis tiefer Trauer verbunden. Christinas Schwester Georgiana übte ebenfalls einen starken Einfluss auf Megan aus. Sie schlossen Freundschaft, und Megan besuchte Moor House sehr oft. Bald erwartete die ganze Gegend, Christian würde sie eines Tages heiraten. Aber er wollte sich erst an ihrem achtzehnten Geburtstag offiziell mit ihr verloben. Da er sechs Jahre älter und viel weltgewandter war als sie, dachte sie, er müsste es am besten wissen, und stimmte zu.
Wie dumm sie gewesen war … An jenem kalten Morgen gegen Ende Februar, als er zu ihr kam und erklärte, er sei von seinem Vater nach London beordert worden, glaubte sie immer noch an seine Liebe. Zwei Wochen später las sie in der Zeitung, er habe Miss Louisa Berringham geheiratet.
Was ihr am schlimmsten erschien – er hatte es nicht einmal für nötig befunden, ihr persönlich zu schreiben, dass er heiraten würde. Ihre ganze Welt stürzte ein, und sie suchte Trost bei ihrer verwitweten Schwester in Somerset.
Seit jenem Februarmorgen vor fast sieben Jahren hatte sie Christian nicht mehr gesehen. Nun würde er ihr wieder gegenübertreten. Ob sie es wollte oder nicht, sie musste den Mann, der ihr junges Leben so grausam zerstört hatte, freundlich empfangen.
Ihre düsteren Gedankengänge wurden unterbrochen, als ihre Zofe eintrat, und Megan wandte sich dem Mädchen zu. “Hat meine Schwester das Haus schon verlassen, Betsy?”
“Ja, Miss. Und das ist gut so, wenn ich mir diese Bemerkung erlauben darf. Bei der Begegnung, die Ihnen bevorsteht, brauchen Sie kein Publikum.”
Eigentlich hätte diese freche Bemerkung einen Tadel verdient. Aber Megan ermahnte ihre vorlaute Zofe nur selten. Es nutzte ohnehin nichts. Außerdem wäre es heuchlerisch gewesen, weil sie Betsys Ansichten meistens teilte.
Als ältestes Kind einer großen Familie war Betsy schon in jungen Jahren gezwungen gewesen, eine Stellung anzunehmen. Zunächst arbeitete sie in der Küche einer unleidlichen älteren Witwe, die alle ihre Dienstboten schon nach kurzer Zeit in die Flucht schlug. Betsy bildete vielleicht gerade deshalb eine Ausnahme, weil sie kein Blatt vor den Mund nahm. Bis zum Tod der furchterregenden Dame blieb sie in deren Diensten. Mittlerweile hatte sie die Position einer Köchin und Haushälterin errungen.
In dieser Eigenschaft war sie vor sieben Jahren von Charlotte eingestellt worden. Niemand konnte der großen, kräftig gebauten Betsy vorwerfen, sie würde sich vor harter Arbeit scheuen. Aber Charlotte war das freimütige
Weitere Kostenlose Bücher