Der Hexer - GK567 - Als der Meister starb
das, wofür ihn die meisten halten.« Sie lächelte geheimnisvoll und sagte noch einmal: »Fahre fort.«
Das Mädchen gehorchte. Ihre Augen blieben weiter geöffnet, aber ihr Blick wurde wieder leer, und ihre Hände, die bisher nervös an einem Zipfel ihres einfachen braunen Kattunkleides gespielt hatten, waren mit einem Male ganz ruhig.
Von draußen drangen gedämpfte Stimmen in den Raum, dann das Trappeln von Schritten, Türenschlagen und Hundegebell. Ein Pferd wieherte schrill, dann knallte eine Peitsche, und eine zornige Stimme begann zu fluchen.
Aber Lyssa schien von alledem nichts zu merken. Starr und wie gelähmt hockte sie auf ihrem Schemel, ohne die geringste Bewegung, ohne mit den Lidern zu zucken, ja, selbst ohne zu atmen.
»Spürst du ihn?« fragte Andara nach einer Weile. »Spürst du seine Nähe? Hört er unseren Ruf?«
Lyssa nickte. Ihr Blick flackerte, wurde für eine halbe Sekunde klar und verschleierte sich sofort wieder. Auf ihrer Stirn lag kalter, klebriger Schweiß.
»Ich fühle ihn«, flüsterte sie. »Er ... hat deinen Ruf gehört, Andara. Und er wird ... ihm folgen.« Sie schluckte. Ihre Stimme wurde brüchig und klang plötzlich wie die einer alten Frau. »Yog-«
»Sprich diesen Namen nicht aus!« Andara hob erschrocken die Hand und berührte die des Mädchens. Die Stimmen, die durch die geschlossenen Läden in den Raum drangen, wurden lauter, und plötzlich zerriß der peitschende Knall eines Schusses die Stille. Ein gellender Schrei antwortete wie ein bizarres Echo darauf.
»Sprich ihn nicht aus«, murmelte Andara noch einmal. »Es ist den Sterblichen verboten, seinen Namen zu benutzen. Es reicht, wenn er weiß, daß wir ihn rufen.«
»Er weiß es«, antwortete Lyssa mühsam. »Und er ... wird tun, was ... du verlangst.«
Andara antwortete nicht mehr. Ihr Gesicht war wieder zu einer Maske der Unberührbarkeit und des Alters erstarrt, und ihre Hände, die nebeneinander auf der Tischplatte lagen, als warteten sie nur darauf, zum Gebet gefaltet zu werden, sahen mehr denn je wie die einer Toten aus.
Nur in ihren Augen glomm ein böses, böses Lächeln auf ...
** *
Die Kabine war dunkel und eng, und die Luft roch schlecht; wie es eben in einem fensterlosen Raum riecht, der viel zu klein für zwei Menschen ist und in dem zudem noch seit annähernd fünf Wochen ein Kranker liegt. Eine winzige rußende Petroleumlampe schaukelte an einem Draht unter der Decke, und Bannermann hatte
– fürsorglich, wie er nun einmal war – einen kleinen Tonkrug mit wohlriechenden Kräutern, den er weißGott-wo aufgetrieben haben mochte, auf das schmale Wandregal neben der Tür stellen lassen. Aber auch er vermochte den muffigen Geruch, der sich in den Wänden eingenistet hatte, nicht vollends zu vertreiben. Wie fast immer, wenn ich hier herunter kam, hatte ich das Gefühl, nicht mehr richtig atmen zu können.
Und wie immer, wenn ich diesen Gedanken dachte, überfiel mich fast sofort ein schlechtes Gewissen. Montague konnte nichts dafür, daß er krank war. Und er war sehr gut zu mir gewesen, obwohl ich es nun wirklich nicht verdient hätte.
Leise trat ich an das schmale, an der Wand verschraubte Bett, beugte mich über den Schlafenden und betrachtete sein Gesicht. Es hatte sich nicht verändert, weder zum Guten noch zum Schlechten. Seine Wangen waren noch immer grau und eingefallen, und unter den großen, in den letzten Tagen vom Fieber trübe gewordenen Augen lagen tiefe schwarze Ringe. Und es faszinierte mich noch immer so wie beim ersten Mal, als ich es gesehen hatte.
Ich erinnerte mich gut an jenen Tag, an jede Minute und jedes Wort, ja, jeden Blick, den er mir bei unserem ersten Zusammentreffen zugeworfen hatte, obwohl seither mehr als sechs Monate vergangen und so viel geschehen war. Ich war damals ein anderer, und das meine ich ganz genauso, wie ich es sage. Bannermann und seine Matrosen hätten den Mann, der ich damals gewesen war, nicht einmal erkannt, wenn er plötzlich neben mir gestanden hätte. Ich war vierundzwanzig, arm und abenteuerlustig (was nichts anderes bedeutete, als daß ich die Hälfte der acht Jahre, die ich in New York gelebt habe, in den dortigen Gefängnissen verbrachte) und lebte von Gelegenheitsarbeit. Jedermann, der das New Yorker Hafenviertel kennt, weiß, was das bedeutet
– nämlich, daß ich auch ab und zu einen ahnungslosen Fremden, der sich nach Dunkelwerden in diese Gegend verirrte, um Geldbörse und Schmuck erleichterte. Nicht, daß es mir Spaß gemacht
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