Der Hexer - NR09 - Das Mädchen aus dem Zwischenreich
* *
Es dauerte fast eine halbe Stunde, bis sich Lady Audley wieder so weit beruhigt hatte, daß sie in der Lage war, einen zusammenhängenden Satz von sich zu geben und auf Fragen zu antworten.
Howard, ich und einer der anderen männlichen Gäste hatten ihre annähernd zwei Zentner in einen kleinen, an die Bibliothek angrenzenden Nebenraum geschleppt und sie auf eine Chaiselongue gebettet, wo sie die ersten zehn Minuten wie gelähmt dagelegen hatte, zitternd, mit starren, weit aufgerissenen Augen und immer wieder kleine, keuchende Laute ausstoßend.
Während sich Howard und Lady Penderguest um sie bemühten, war ich in die Bibliothek zurückgegangen und hatte eine Weile ernst mit Sir Penderguest gesprochen. Es war nicht sehr fair, was ich ihm sagte, und obwohl er meine Worte mit steinerner Miene zur Kenntnis nahm, verriet mir der Ausdruck in seinen Augen doch, daß dieses Gespräch unserem guten Verhältnis einen gehörigen Knacks versetzt hatte.
Aber es wirkte. Sir Henry Penderguest war bleich und verstört, als ich mich herumdrehte, um zu Howard und Lady Audley zurückzugehen, aber ich wußte, daß er dafür sorgen würde, daß nichts von dem, was während der Seance geschehen war, bekannt wurde.
Howard sah auf, als ich den Raum betrat und die Tür hinter mir zuzog. In seinen Augen glomm eine stumme Frage auf.
»Es ist alles in Ordnung«, sagte ich rasch. »Niemand wird etwas erfahren. Jedenfalls vorerst nicht.«
Lady Penderguest, die auf der anderen Seite der Chaiselongue Platz genommen hatte und Lady Audleys Hand hielt, sah erstaunt auf, aber ich ließ sie gar nicht erst zu Wort kommen, sondern öffnete die Tür noch einmal und machte eine eindeutige Bewegung mit der Hand.
»Es wäre sehr freundlich, wenn Sie uns einen Moment mit Lady Audley allein ließen, Lady Penderguest«, sagte ich, in einem Ton, der die höfliche Wahl meiner Worte zu blankem Hohn degradierte. Lady Penderguest erbleichte, bedachte mich mit einem Blick, der einen Stein zum Erfrieren gebracht hätte, und rauschte beleidigt hinaus. Rasch schloß ich die Tür hinter ihr, ging zu Howard hinüber und ließ mich neben Lady Audley auf die Knie sinken. Ihre Augen waren geöffnet, aber ich hatte das Gefühl, daß ihr Blick geradewegs durch mich hindurch ging. In ihren Pupillen flackerte etwas, das mich an den Ausdruck in den Augen einer Schwachsinnigen erinnerte. Was immer sie gesehen hatte, mußte ihren Geist dicht an den Rand des Wahnsinns getrieben haben. Vielleicht darüber hinaus.
»Bist du sicher, daß niemand etwas sagen wird?« erkundigte sich Howard.
Ich nickte, ohne zu ihm aufzublicken. »Vollkommen sicher«, antwortete ich. »Die Penderguests würden sich eher erschießen, ehe sie auch nur ein Wort von dem, was hier vorgefallen ist, verlauten ließen.«
»Was hast du ihnen gesagt?« fragte Howard.
Ich zuckte mit den Achseln. »Spielt das jetzt noch eine Rolle?« fragte ich. »Ich weiß nur, daß ich seit zehn Minuten zwei Freunde weniger habe. Hat sie etwas gesagt?«
»Lady Audley?« Howard verneinte. »Noch nicht. Ich fürchte, wir werden einen Arzt rufen müssen«, fügte er nach kurzem Zögern hinzu.
»Warte noch damit«, bat ich. »Vielleicht kann ich ihr helfen.«
Howard runzelte zweifelnd die Stirn, räumte aber schweigend seinen Platz, so daß ich mich neben Lady Audley auf die Couch setzen konnte. Zögernd griff ich nach ihrer Hand, legte die Linke auf ihre Stirn und versuchte ein Schaudern zu unterdrücken, als ich spürte, wie eisig ihre Haut war. Ihr Puls jagte, aber gleichzeitig ging ihr Atem sonderbar flach, und ihre Finger zuckten in unregelmäßigen Abständen.
»Sie hat einen Schock«, erklärte Howard überflüssigerweise.
»Ich weiß«, antwortete ich, gebot ihm mit einer raschen, unwilligen Kopfbewegung, zu schweigen, schloß die Augen und konzentrierte mich.
Es war nicht das erste Mal, daß ich versuchte, meinen Geist mit dem eines anderen Menschen zu verschmelzen. Ich habe es oft getan, aber es ist mir noch nie gelungen, wirklich in Worte zu fassen, was ich dabei empfinde. Worte sind wie Krücken, die nur unzureichend beschreiben können, wie es ist, eine innige Verbindung mit dem Geist – mit dem Selbst – eines anderen Menschen einzugehen.
Es war nicht so, als würde ich ihre Gedanken lesen oder einen Blick in ihre Seele tun; für einen Moment war ich sie, und sie war ich. All ihre Erinnerungen, ihre Empfindungen und Sehnsüchte, der ganze gewaltige Schatz ihrer Erfahrungen und ihrer geheimsten
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