Der Hexer - NR09 - Das Mädchen aus dem Zwischenreich
Sperrstunde war längst vorüber. Der Pub hatte geschlossen, und die letzten Gäste waren nach Hause gegangen, aber der Wirt hatte Kilian noch zu bleiben gestattet, bis er die Stühle hochgestellt und seine Kasse abgerechnet hatte. Er wußte, daß der Alte kein wirkliches Zuhause hatte, sondern in Scheunen oder unter abgestellten Wagen schlief, und obwohl er ihn einerseits nicht mochte, weil er ständig die Gäste anbettelte und mit leeren Taschen und hungrigen Augen vor dem Pub herumlungerte, tat er ihm auf der anderen Seite auch leid; er gönnte ihm die wenigen Minuten, die er sich noch in der Wärme des Lokals aufhalten konnte.
Es war fast elf, als Kilian das Gebäude verließ und – leicht schwankenden Schrittes – auf die nachtdunkle Straße hinaustrat. Hinter ihm wurde die Tür ins Schloß gedrückt und der Schlüssel klirrend gedreht; wenige Augenblicke später verlosch auch das letzte Licht hinter den blind gewordenen Butzenscheiben, und die Nacht nahm auch von der letzten Insel blasser Helligkeit in der Stadt Besitz.
Unentschlossen blickte der Alte die Straße hinab und überlegte, wo er für diese Nacht unterkriechen sollte. Die offene Remise, in der er in den letzten Wochen fast regelmäßig geschlafen hatte, erschien ihm nicht gut an diesem Abend. Es war kühl, und die Luft roch nach Regen und Sturm; schwere bauchige Wolken hatten die Sterne und den Mond verschlungen, und die Finsternis der Nacht war irgendwie... dichter als sonst.
Trotzdem war sie nicht tief genug, die dunklen, huschenden Körper vollends zu verschlucken, die den südlichen Rand des Ortes einzukreisen begannen.
Kilian machte einen Schritt, fuhr sich verwirrt mit dem Handrücken über die Augen und blinzelte, aber die Schatten verschwanden nicht, sondern wurden im Gegenteil deutlicher.
Sie waren klein. Nicht viel länger als eine kräftige Männerhand, mit dünnen, ekelhaft nackten Schwänzen und blitzenden Zähnen. Und sie waren viele.
Kilian zögerte einen Moment. Dann huschte ein dünnes, wissendes Lächeln über seine eingefallenen Züge. Er kicherte, wandte sich um und blickte in die entgegengesetzte Richtung.
Das jenseitige Ende der Straße – das gleichzeitig auch die Grenze von St. Aimes markierte – war zu weit entfernt, ihn ‘Einzelheiten erkennen zu lassen. Aber der Wind trug das Scharren und Kratzen harter Pfoten zu ihm herüber.
Der Alte kicherte, wackelte blödsinnig mit dem Kopf und begann mit hängenden Schultern die Straße hinab zu schlurfen.
Die Ratten reagierten auf sein Näherkommen mit unruhiger Bewegung und einem dünnen, warnenden Pfeifen und Quieken.
Aber Kilian ging unbeeindruckt weiter. Er war zu betrunken, um durch den Anblick allein zu erschrecken. Und er wußte zu viel, um durch das Geschehen wirklich überrascht zu sein.
Langsam näherte er sich der Front der kleinen grauen Nager, blieb schließlich doch stehen und stieß ein hohes, meckerndes Lachen aus. Eine Ratte näherte sich ihm, schnüffelte mißtrauisch an seinem rechten Schuh, blickte dann aus brennenden kleinen Äuglein zu ihm empor – und entfernte sich wieder. Eine zweite Ratte kam heran, beschnüffelte ihn ebenso – und trollte sich gleichfalls.
Kilian kicherte erneut. »Jaja, ihr wißt es«, sagte er. »Nicht wahr, ihr wißt es? Oh, ihr seid klug, ihr Grauen Herren. Viel klüger als wir Menschen. Ihr kennt euren wahren Herren, nicht wahr? Und ihr seid nicht so blind und taub wie wir.«
Er lachte wieder, ging weiter und sah sich dabei mit kleinen, ruckhaften Bewegungen nach rechts und links um. Die schmale, kaum befestigte Straße war übersät von Ratten, und die Böschung zu beiden Seiten schien zu zucken und zu beben, als wäre sie selbst ein großes, lebendes Wesen.
Es mußten tausende, wenn nicht zehntausende von Ratten sein, die dem unhörbaren Ruf gefolgt und aus der Dunkelheit herbeigeeilt waren.
Aber Kilian hatte keine Angst. Er wußte, daß ihm die Ratten nichts zuleide tun würden; wenigstens im Moment noch nicht.
»O nein«, kicherte er. »Ihr tut dem alten Kilian nichts, nicht wahr? Ihr Grauen Herren wißt, daß Kilian nicht euer Feind ist. Und ihr wißt, daß auch er weiß. Oh, nicht so viel wie ihr, natürlich nicht, aber er weiß viel. Und was er nicht weiß, das will er gar nicht wissen. Es gibt böse Dinge unter der Erde. Sehr böse Dinge.«
Kilian kicherte noch einmal blöde, warf einen langen, spöttischen Blick auf die wogende schwarze Masse der Ratten und schlurfte mit hängenden Schultern weiter.
*
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