Der Hexer - NR11 - Engel des Bösen
»Flieh, Robert«, wimmerte sie. Ein schwerfälliges, rotes Zucken lief über ihre Züge. Etwas blitzte unter ihrem silbernen Engelshaar.
»Flieh!« stöhnte sie. »Ich... kämpfe gegen ihn, aber er ist... stark. Nimm Audley und... lauf...«
»Ich helfe dir«, sagte ich, aber Shadow schüttelte heftig den Kopf. »Lauf!« keuchte sie. »Lauf weg, Robert. Er wird... dich töten. So lauf doch weg!«
Ich zögerte noch einen unmerklichen Augenblick, dann fuhr ich herum und rannte zu Lady Audley zurück, so schnell ich konnte.
Sie lag noch in der gleichen Stellung da, in der ich sie zurückgelassen hatte. Ihre Augen waren klar. »Was ist geschehen, Robert?« fragte sie, als ich neben ihr niederkniete. »Ich habe Lärm gehört. Haben Sie Shadow gefunden?«
»Nein«, log ich. »Aber wir müssen weg. Rasch.« Behutsam hob ich einen Arm unter ihren Nacken, den anderen unter ihr voluminöses Gesäß, und versuchte sie anzuheben.
Lady Audley schrie vor Schmerz.
Ich ließ sie zurücksinken, blickte über die Schulter in die Richtung zurück, in der Shadow – wenn sie noch Shadow war, und nicht bereits wieder diese schreckliche gehörnte Kreatur – sein mußte, und atmete hörbar aus.
»Es tut mir leid, Mylady«, sagte ich, »aber ich muß Ihnen jetzt sehr weh tun. Sie können nicht hierbleiben. Es wäre Ihr Tod.«
Lady Audley lächelte tapfer. »Machen Sie nur, mein Junge«, sagte sie leise. »Ich werde es aushalten.«
Trotzdem begann sie vor Schmerzen abermals zu schreien, als ich sie hochhob, mich schwerfällig herumdrehte und mit schwankenden Schritten in die Richtung ging, in der ich den Ausweg wußte.
Wie ich den Weg bis zur Friedhofsmauer fand, wußte ich hinterher nicht mehr zu sagen. Lady Audley schien Tonnen zu wiegen, und sie wurde bei jedem Schritt schwerer. Zudem gellten ihre Schreie ununterbrochen in meinen Ohren, und ich spürte, wie ihr am ganzen Leib der kalte Schweiß ausbrach. Seltsamerweise bewegte sie sich überhaupt nicht.
Wir passierten die Stelle, an der Shadow zurückgeblieben war, und erreichten unbehelligt das Tor in der Friedhofsmauer.
Aber mehr auch nicht.
Denn hinter dem Tor war –
nichts mehr!
* * *
Howard erstarrte. Die Ratte war ganz nahe an seinem Gesicht, ihr halb geöffnetes Maul nur wenige Zentimeter vor seinen Augen, so daß er ihren warmen, nach Aas stinkenden Atem spüren konnte. Ihr nackter Schwanz peitschte wie der eines Hundes. In ihren Augen loderte die nackte Blutgier.
Howard spannte sich. Die Ratte war so wenig Herr ihrer selbst wie Erika oder irgendeines der bedauernswerten Opfer, die Shub-Niggurath in den letzten Tagen getötet hatte, aber er spürte, wie die animalischen Instinkte des kleinen Raubtieres den suggestiven Bann mehr und mehr zu überwinden begannen. Das Tier war hungrig – und es witterte sein Blut!
Millimeter für Millimeter kam die Ratte näher. Ihre spitze Schnauze näherte sich seinem Gesicht und berührte seine Haut, fuhr schnüffelnd über seine Stirn, dicht an seinem linken Auge entlang und die Wange hinab. Howard ballte die Faust und machte sich zum Zuschlagen bereit.
Plötzlich prallte die Ratte zurück. Ein schrilles, fast ängstliches Quieken drang aus ihrem Maul. Rücklings und mit fast grotesken Sprüngen wich sie vor ihm davon, bis sie gegen die Wand prallte, setzte sich auf die Hinterläufe und begann sich mit den Vorderpfoten über die Schnauze zu fahren, immer und immer wieder. Ein einzelner Blutstropfen glitzerte an ihrem Maul.
Howard setzte sich verwirrt auf. Im ersten Moment glaubte er, das Tier hätte sich verletzt, aber im gleichen Augenblick, in dem er sich bewegte, fuhren auch die anderen Ratten mit einem fast ängstlichen Pfeifen zurück und rannten aus der Zelle.
Verwirrt betrachtete Howard erst das zurückgebliebene Tier, das sich noch immer wie von Sinnen putzte und rieb, dann hob er die Hand, tastete nach seiner Wange und blickte auf das hellrote Blut, das plötzlich auf seinen Fingern war. Sein eigenes Blut, das aus dem Kratzer drang, den Erika ihm verpaßt hatte!
Eine dumpfe Ahnung begann sich in Howard breitzumachen. Im ersten Augenblick erschien ihm der Gedanke zu weit hergeholt, um wahr sein zu können, aber das Verhalten der Ratten ließ keinen anderen Schluß zu.
Es war sein Blut. Sein Blut, das jetzt von Tollwutviren wimmeln mußte und zu einem tödlichen Gift geworden war, das die Tiere vertrieben hatte. Die Ratten mußten die Gefahr, die von ihm ausging, instinktiv spüren. Normalerweise hätte er
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