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Der Hexer - NR32 - Der Koloss von New York

Der Hexer - NR32 - Der Koloss von New York

Titel: Der Hexer - NR32 - Der Koloss von New York Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Verschiedene
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als Geister.
    Im Grunde war O’Connelly sogar ein wenig froh über diese Gerüchte, denn sie hatten es ihm ermöglicht, seinen Job zu behalten. Melville hatte ihn noch nie leiden können, und sie waren erst vor knapp drei Monaten dergestalt aneinandergerasselt, daß Melville zum Schluß wutschnaubend gedroht hatte, ihn zu feuern und einen jüngeren auf seinen Platz zu setzen. Aber dann waren die Gerüchte aufgekommen, und plötzlich waren keine jüngeren Männer mehr dagewesen, die sich für den Job als Nachtwächter interessierten. Für O’Connellys Dafürhalten waren sie alle beknackt – gottlob. Er hätte nicht gewußt, was er ohne die paar Dollars anfangen sollte, die er sich auf diese Weise dazuverdiente.
    Nein, die einzigen Geister, vor denen sich O’Connelly fürchtete, waren verwahrloste Jugendliche und Strauchdiebe, die nachts in die Docks kamen, um zu schlafen oder ahnungslose Fremde auszurauben. Und für solcherlei Fälle trug er einen mit Sand gefüllten Lederbeutel in der Rocktasche. Der letzte, der sich von seiner gebeugten Gestalt und seinem schütter gewordenen Haar hatte täuschen lassen, hatte seine Zähne vom Straßenpflaster aufgehoben, ehe er davongekrochen war. O’Connelly war eindeutig alt – aber er gehörte zu jener kleinen Gruppe von Alten, zu denen zum Beispiel gereizte alte Elefantenbullen gehörten; oder übellaunige Grizzlybären.
    Er nahm seine Lampe wieder an sich, vergrub die linke Hand in der Tasche seiner groben schwarzen Arbeitsjacke und schlurfte los. Genau drei Schritte weit. Dann blieb er wieder stehen, hob die Lampe ein wenig höher und lenkte den zittrigen Schein in die Schatten auf der gegenüberliegenden Straßenseite. Das kalkweiße Licht brannte einen Halbkreis in die Nacht, aber er sah nichts als schmutzigen, feuchtglänzenden Stein, Unrat, der sich in Ecken und Winkeln angesammelt hatte, ein wenig Schimmel, Schatten, die hastig vor dem Licht flohen und kleine zornige Pfiffe hören ließen...
    Trotzdem blieb O’Connelly weiter reglos stehen, gebannt lauschend und die Augen zu schmalen Schlitzen zusammengepreßt. Verdammt, er war sicher, etwas gehört zu haben; ein Geräusch, das nicht der Wind und nicht die Ratten verursacht haben konnten.
    Aber sonderbarerweise war er auch sicher, daß es kein Mensch gewesen war...
    O’Connelly wollte die Lampe gerade wieder senken und seinen Rundgang fortsetzen, als er den Laut erneut hörte. Und diesmal so deutlich, daß er erstens sicher war, sich nicht getäuscht zu haben, und zweitens auch die Richtung identifizieren konnte, aus der er kam. Seine freie Hand kroch in die Tasche und schloß sich um den improvisierten Totschläger darin.
    Als er die Straße zur Hälfte überquert hatte, sah er die offenstehende Tür. Es war nur ein schmaler Spalt, und jedem anderen wäre er wahrscheinlich gar nicht aufgefallen. Aber O’Connelly kannte jeden Fußbreit Boden, jeden Schatten und jeden Schmutzfleck auf diesen Wänden seit zwanzig Jahren. Für ihn war die angelehnte Tür wie ein Hinweisschild aus Leuchtfarbe.
    Einen Moment lang zögerte der greise Nachtwächter doch, seinen Weg fortzusetzen. Er verspürte nicht direkt Angst, aber die offenstehende Tür – und vor allem das Wissen, daß sie bei seiner letzten Runde verschlossen gewesen war – ließ auch den letzten Gedanken an Gespenster und ähnlichen Firlefanz erlöschen. Gespenster pflegen keine Türen aufzubrechen, um in einen Lagerschuppen einzudringen.
    Aber was sollte er tun? Zurückgehen und die Polizei rufen?
    O’Connelly verwarf den Gedanken fast so schnell, wie er ihm gekommen war. Er würde eine halbe Stunde brauchen, das Büro der Hafenmeisterei zu erreichen, und noch einmal die gleiche Zeit, zurückzukommen. Bis dahin waren die Vögel garantiert fort, und wahrscheinlich der Inhalt des Lagerhauses auch. Melville würde ihm mit Freuden die Hölle heißmachen, wenn während seiner Schicht auch nur das Geringste geschah. Und andererseits, dachte O’Connelly listig – er mußte sich ja nicht mit den Burschen anlegen, die dort drinnen gerade ihre langen und vermutlich schmutzigen Finger ausstreckten. Es reichte, wenn er sie beobachtete und einem frustriert dreinblickenden Melville am nächsten Morgen eine genaue Beschreibung oder gleich die Täter präsentierte. In seiner Zeit als Nachtwächter hatte O’Connelly so ziemlich jeden Galgenvogel kennengelernt, den es in diesem Teil New Yorks gab.
    Behutsam setzte er seine Lampe auf den Boden, drehte das Licht herunter, bis

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