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Der Himmel ist kein Ort

Der Himmel ist kein Ort

Titel: Der Himmel ist kein Ort Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dieter Wellershoff
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Schar murmelnder Gespenster schlurfe gehorsam hinter ihm her. Anfangs hatte er versucht, langsamer zu sprechen,
     um mit den anderen Stimmen in einen gemeinsamen Takt zu kommen. Das hatte aber nichts geändert. Sie hatten sich weiter von
     ihm mitziehen lassen, als brauchten sie einen Vorbeter, um den Widerstand zu überwinden, der für sie von dem Schweigen ihrer
     Banknachbarn ausgehen mochte. Es war der lahmende Rhythmus der Halbherzigkeit. Sie beteten, als ob sie beteten, wie gefesselt
     von einer vagen Beschämung, die sie veranlasste, ihre Stimmen in undeutlichem Gemurmel verschwimmen zu lassen.
    Er konnte sie deswegen nicht verurteilen, denn er konnte die wachsende Kluft nicht leugnen, die zwischen dem Alltag der Menschen
     und dem Glauben lag, und musste froh sein, dass sie überhaupt noch zum Gottesdienst kamen. Mehr litt er, wenn der Gesang der
     Gemeinde dünn und zaghaft blieb. Doch heute hatte er, dank der großzügigen Unterstützung durch den Brautvater, einen besseren
     Chor aus der Kreisstadt bekommen und war nicht angewiesen auf die schüchternen und ungeübten Stimmen aus dem Singkreis, die
     verstreut zwischen den meist stummen Kirchgängern saßen.
    Als Eingangslied hatte er Paul Gerhardts »Befiehl du deine Wege« ausgesucht, dessen Melodie, ruhig und unbeirrbar fortschreitend,
     in ihrer Einfachheit und Klarheit dem unerschütterlichen Gottvertrauen des Liedtextes entsprach. Vor allem liebte er die erste
     Strophe, die mit den Worten des 37. Psalms begann |34| und ohne Umschweife die Verbindung vom einzelnen Menschen zur Allmacht Gottes schuf.
    »Befiehl du deine Wege und was dein Herze kränkt der allertreuesten Pflege des, der den Himmel lenkt. Der Wolken, Luft und
     Winden gibt Wege, Lauf und Bahn, der wird auch Wege finden, da dein Fuß gehen kann.«
    Was für ein Sprung von der Natur zum menschlichen Leben! Was für ein Versprechen! Doch viele sangen nicht oder taten nur so.
     Die Braut schaute ins Gesangbuch und bewegte die Lippen. Der Bräutigam blickte schweigend vor sich hin. Dies war möglicherweise
     das letzte Mal in ihrem Leben, dass die beiden an einem Gottesdienst teilnahmen. Und wie er sie dort vor sich sitzen sah –
     die Braut in einem eleganten hellen Sommerkostüm, der Bräutigam in seinem vermutlich maßgeschneiderten Anzug mit weißem Hemd
     und sorgfältig ausgewählter Krawatte –, fand er es völlig verständlich, dass sie sich innerlich abgrenzten. Das waren Menschen,
     die gewohnt waren, ihr Leben selbst zu gestalten und zu verantworten. Wenn man sie mit der Gottergebenheit und den Demutsgesten
     der alten Kirchenlieder traktierte, konnte man eigentlich nichts anderes als höfliche Zurückhaltung von ihnen erwarten.
    Er dagegen musste eine Festigkeit zeigen, die er nicht hatte. Sein eigener Ort war im Unbestimmten, nicht dort, wo er zu sein
     vorgab, während er hier stand und wie ein geübter Schauspieler im Tonfall innerer Gewissheit die Glaubensgeheimnisse von Tod
     und Auferstehung und ewigem Leben vortrug, die |35| er immer in eine unantastbare Ferne rücken musste, um sie nicht anzuzweifeln. Für viele ältere Kollegen war das offensichtlich
     kein Problem. Sie lebten mit den Glaubenssätzen wie mit alten Nachbarn, die man jeden Tag grüßte und hinnahm mit allen ihren
     Seltsamkeiten.
    Die Orgel leitete das nächste Lied ein: Paul Flemings »In allen meinen Taten lass ich den Höchsten raten«, auch einer jener
     frommen Texte aus der Zeit des Dreißigjährigen Krieges, den er ausgewählt hatte, um das Thema seiner Predigt einzuleiten.
     Er wollte über Vertrauen sprechen – Vertrauen als Zukunftsstiftung, gestützt durch eine Vertrauensordnung wie es die Ehe war.
     Nach der Predigt musste er die Trauformel sprechen, die noch belastet war mit den Bildern der vergangenen Nacht. »Bis dass
     der Tod euch scheidet.« Bis zu der Höhe dieses Anspruchs musste er mit seiner Predigt gelangen. Er musste ihn glaubhaft, wünschenswert
     und realistisch erscheinen lassen, obwohl er mit seiner eigenen Erfahrung nicht dafür einstehen konnte. Gesang und Orgelmusik
     schwemmten um ihn herum wie das Rauschen einer kommenden Ohnmacht. Die sämtliche Bankreihen füllende, festlich gekleidete
     Menge blickte in die Gesangbücher. Gleich würden alle ihn anschauen. Was ist, wenn ich versage?, dachte er. Es würde gerecht
     sein, denn ich kann ihnen nicht geben, was sie erwarten. Ich muss es vortäuschen mit meinen Worten, mit meiner Stimme. Was
     anderes habe ich nicht.
    Er

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