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Der Himmel ist kein Ort

Der Himmel ist kein Ort

Titel: Der Himmel ist kein Ort Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dieter Wellershoff
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berüchtigt!«
    |42| Neben dem Redner zu sitzen war unangenehm, weil man sich dort im Zentrum der Blicke befand, und um sich dagegen abzuschirmen,
     schaute er auf die Tischdecke, die dort, wo der Platz für sein Gedeck an den des Nachbarn grenzte, einen Bügelknick hatte,
     der in der Mitte des Tisches unter einer Blumenschale verschwand. Kleine Krümel von den Käsestangen, die zur Suppe gereicht
     worden waren, lagen auf der immer noch schneeweißen Decke, dicht daneben seine linke Hand mit den weißen Halbmonden der Fingernägel
     und den Hautfalten über den Gelenken. Was für ein seltsames Gebilde war eine menschliche Hand.
    Wie die meisten, die den Gastgeber kannten, wohl vorausgesehen hatten, dauerte die Tischrede an, was allen, aber vor allem
     ihm, der direkt neben dem Redner saß, die Rolle nachdenklicher Zuhörer auferlegte. Als er einmal aufschaute, um einen anderen
     Ruhepunkt für seine Augen zu finden, begegnete er dem Blick der schräg gegenübersitzenden Frau, die ihn wohl schon längere
     Zeit angeschaut hatte, denn dies war kein zufälliger, flüchtiger Blick, der gleich wieder von ihm abgeglitten wäre.
    Offenbar im Vertrauen darauf, dass alle der Rede lauschten und keiner ihren Blickwechsel beobachtete, oder sogar vollkommen
     gleichgültig gegen solche Bedenken, hielten ihre Augen seine Augen fest. Als er sich schließlich abwandte, wusste er, sie
     hatte ihm eine Botschaft geschickt. Sie hatte ihm zu verstehen gegeben: Du bist hier der einzige Mensch, der mich interessiert.
    |43| Aber er konnte es nicht verstehen. Es war unglaubhaft wie ein Hirngespinst. Diese Frau war nicht nur viel älter als er. Sie
     passten auch überhaupt nicht zusammen. Er musste etwas missverstanden haben. Er, der ortsansässige Pfarrer, saß hier in einer
     Hochzeitsgesellschaft. Vor ihm stand sein fast leeres Weinglas auf dem Tisch. Er trank es aus, stellte es wieder vor sich
     auf den Tisch und lehnte sich zurück. Der Gastgeber beendete seine Rede und wurde beklatscht. Die Frau des Gastgebers stellte
     ihm Fragen, die er höflich beantwortete. Der Gastgeber sprach zu ihm über die wirtschaftlichen Probleme des Baugewerbes. Er
     zwang sich zuzuhören, obwohl er sofort alles wieder vergaß. Auch die Frau gegenüber sprach mit ihrem Nachbarn. Während er
     vorgab, seinem Nachbarn zuzuhören, beobachtete er sie von der Seite.
    Als habe sie seinen Blick gespürt, drehte sie den Kopf, und für eine kurze gegenseitige Vergewisserung trafen sich ihre Augen.
     Es war derselbe unverhüllte Blick wie vorhin, ein rasches Zeichen verschwörerischen Einverständnisses, bevor sie sich ihrem
     Nachbarn wieder zuwandte.
    Danach wiederholte es sich nicht mehr. Unter dem Vorwand, er müsse noch einen wichtigen Besuch machen, verließ er die Gesellschaft
     vorzeitig. Er kannte sich mit diesen Menschen nicht aus.
     
    Missmutig fuhr er nach Hause und stieg in seine Wohnung hoch, die hinter den zugezogenen Vorhängen dämmrig und verödet wirkte.
    Ja, so war sein Leben, so sah es aus. Es hatte ihn |44| wieder einmal zum Narren gehalten, ihn, einen Phantasten, der sich so leicht täuschen ließ.
    Manchmal glaubte er, alle anderen lebten, nur er nicht. Er wusste nicht, ob das seine Schuld war oder ein Verhängnis, das
     unauffällig gegenwärtig war in den Umständen und Verhinderungen, die man das alltägliche Leben nannte. Was hatte sich diese
     Frau gedacht, als sie ihn so beharrlich angeschaut hatte? Hatte er sie völlig missverstanden? Er hätte es gerne gewusst, würde
     es aber nie erfahren.
    Vor allem musste er jetzt Karbe anrufen. Das war im Augenblick seine dringendste Aufgabe. Doch Karbe meldete sich nicht. Vielleicht
     war er ins Krankenhaus gefahren, um nach dem Jungen zu sehen. Möglicherweise war der Junge auch gestorben, und man hatte Karbe
     angerufen.
     
    Er versuchte sich vorzustellen, wie Karbe an das Bett des toten Jungen trat. In seiner Vorstellung sah er ihn als Rückenfigur,
     wie er ihn in der Nacht, gleich nachdem er aus dem Auto gestiegen war, am Seeufer gesehen hatte, eine dunkle, gedrungene Gestalt,
     die unbeweglich auf die Stelle starrte, wo das Auto mit den beiden Ertrunkenen von der Seilwinde aus dem Wasser gezogen wurde.
     Jetzt sah er diese Gestalt am Fußende eines weiß bezogenen und hell beleuchteten Bettes stehen, in dem aufgebahrt das Kind
     lag, im Schwarz-Weiß-Kontrast dieser unheimlichen Konfrontation.
    Er beschloss, ins Krankenhaus der Kreisstadt zu fahren, erleichtert, dass er jetzt ein Ziel

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