Der Himmel ist kein Ort
Pfarrer. Wir haben Sie schon vermisst. Wie Sie sehen, haben
wir schon mit dem Essen begonnen. Kommen Sie! Sie sitzen hier zwischen meiner Frau und mir.«
|39| Er wurde mit den in der Nähe sitzenden Leuten bekannt gemacht und blickte in lauter Gesichter, die ihn wohlwollend anlächelten.
Es sah aus, als hätten sich vor allem die älteren Frauen geeinigt, ihn, den zu spät gekommenen Gast und Fremdling in ihrem
Kreise, mit Nachsicht und freundlicher Zuwendung zu empfangen. Eine von ihnen, die ihm schräg gegenübersaß, eine Frau um die
fünfzig, wie er schätzte, die die gleichen dunkelbraunen Haare wie Claudia hatte, allerdings sorgfältiger frisiert und geschminkt
war, hatte ihn mit einem seltsamen versunkenen Blick betrachtet, den er noch auf sich ruhen fühlte. Als er sich ihr wieder
zuwandte, hatte sie leise, offenbar nur für ihn bestimmt, gesagt: »Sie haben eine wunderbare Predigt gehalten.«
Von mehreren Seiten bekam sie Zustimmung.
»Ja, das war wirklich etwas zum Nachdenken. Das erlebt man ja so selten.«
»Und Sie haben so sympathisch gesprochen, sympathisch bescheiden.«
»Danke«, sagte er.
Erneut suchte er den Blick der Frau, die ihn nicht losgelassen hatte und sofort wieder an sich band, mit einem begütigenden
Lächeln, das zu sagen schien: »Ich weiß ja, alle wollen mit Ihnen reden. Da muss ich mich zurückhalten. Aber ich sehe Sie
auch gerne an.«
Wieder sprach eine andere Frau quer über den Tisch hinweg, diesmal mit einer Beimischung von Koketterie: »Der Schmetterling
hat Sie anscheinend überhaupt nicht gestört.«
|40| »Im Gegenteil. Ich fand es schön, dass er mich besucht hat.«
Die Antwort löste um ihn herum beifälliges Lächeln und Nicken aus. Und einer der jüngeren Männer – wenn er sich richtig erinnerte,
ein Jurist und Kollege des frisch vermählten Ehemanns – wagte sich mit der Frage vor, ob der Heilige Geist nicht auch in Gestalt
eines Schmetterlings erscheinen könne.
»Warum nicht?«, sagte er. »Ich glaube, er kann viele Gestalten annehmen.«
»Dann sind der Phantasie ja keine Grenzen gesetzt.«
»Nein«, sagte er kurz. »Der Geist ist unendlich. Er weht wie und wo er will.«
Die Frau schräg gegenüber, die ihn fortwährend angesehen hatte, wollte ihm anscheinend beistehen, indem sie das Gespräch an
sich zog.
»Sie haben etwas sehr Wichtiges gesagt. Ich weiß nicht, ob ich es noch zusammenbekomme: Selbstvertrauen fördert Vertrauen
und Vertrauen fördert Selbstvertrauen. Habe ich das richtig in Erinnerung?«
»Ja, das ist der Gedanke. Es ist ein lebendiger Zusammenhang.«
»Sie haben das großartig formuliert.«
»Aber ja«, stimmte der Jurist ihr zu, »Theologen sind bekanntlich noch größere Formulierungskünstler als Juristen.«
Sein Lächeln zeigte einen unverfrorenen, selbstgefälligen Charme und schien ihn zu einem weiteren Wortwechsel herauszufordern.
Der Gastgeber beendete |41| diesen Moment, indem er mit seiner ruhigen, fülligen Stimme sagte: »Für mich erscheint der Heilige Geist jetzt in der Gestalt
des Obers, der uns die Suppe bringt.«
»Entschuldigen Sie den dummen Scherz, Herr Pfarrer«, sagte er, sich ihm zuneigend und legte ihm fürsorglich seine Hand auf
den Unterarm:
»Sie bekommen ja auch erst noch die Vorspeise.«
»Nein, bitte auch gleich die Suppe«, sagte er.
Um sich einen Augenblick aus dem Gespräch zurückzuziehen, blickte er in die gedruckte Doppelkarte, die in geschwungener Schreibschrift
rechts die Speisenfolge und links die dazu gereichten Weine aufführte. »Schottische Hirtensuppe« las er. Was auch immer das
sein mochte, ihm war es recht. Er war hungrig und sowieso ein wahlloser Allesesser, der seine Mahlzeiten nicht selten im Stehen
einnahm, immer in dem Grundgefühl, dass er ein vorläufiges Leben führte, in dem nahezu alles provisorisch war. Umgeben von
fremden Stimmen und Blicken löffelte er seine Suppe. Die Ober kamen wie auf ein Zeichen durch die Seitentür in den Saal und
räumten die leeren Suppentassen ab, und der Gastgeber klopfte mit dem Dessertlöffel gegen sein Weinglas, als Ankündigung,
dass er reden wolle. Ringsum verstummten die Gespräche, zuletzt am unteren Ende der Tafel, wo nicht alle das Klingen des Glases
gehört hatten. Der Gastgeber versicherte, er wolle nur kurz reden. Niemand schien ihm das zu glauben, und ein älterer Herr,
offenbar ein Familienmitglied oder ein alter Freund, rief dem Gastgeber zu: »Dafür bist du ja
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