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Der Himmel ist kein Ort

Der Himmel ist kein Ort

Titel: Der Himmel ist kein Ort Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dieter Wellershoff
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turbulente schattenhafte Szene,
     als er hörte, dass Dr. Kühne ein neues Argument nachschob.
    »Es kann durchaus sein«, sagte er, »dass auch die Vertrautheit mit dem Gelände eine Rolle gespielt hat. Vielleicht hatte er,
     wenn er täglich an der Stelle vorbeifuhr, schon oft gedacht, hier könnte es geschehen. Aber er hatte sich immer sogleich gesagt,
     es sei natürlich ein ganz abwegiger Gedanke. Und dann plötzlich, ohne dass er es geplant hatte, war es Wirklichkeit. Und nicht
     mehr zu widerrufen.«
    Wieder entstand eine Pause.
    »Möglich«, hörte er sich sagen. Es klang wie ein Eingeständnis, zu dem er genötigt worden war. Das er aber unbedingt abschütteln
     wollte.
    »Das sind doch alles nur Konstruktionen«, sagte er.
    »Klar«, stimmte Kühne zu. »Es kann völlig anders gewesen sein.«
    War das ein sachliches Zugeständnis oder pure Beliebigkeit?
    »Mir«, sagte er mit einem Werben um Zustimmung in der Stimme, »mir erscheinen alle die Überlegungen viel unwahrscheinlicher
     als Karbes eigene Version, er sei von einem entgegenkommenden Fahrzeug geblendet worden, habe versucht auszuweichen und sei
     von der Straße abgekommen. Das hat er kurz nach dem Unfall der Polizei und mir erzählt. Ich sehe keinen Grund, ihm nicht zu
     glauben.«
    »Nun ja«, sagte Kühne, »wir sind ja davon ausgegangen, |49| dass das nicht alles erklärt. Ich frage mich zum Beispiel, warum der Fahrer des anderen Wagens nicht gehalten hat. Er muss
     den Unfall doch gesehen haben. Falls es diesen Fahrer gegeben hat.«
    »Das war Panik und Fahrerflucht. Oder er war schon an Karbes Wagen vorbei, als es passierte.«
    Kühne nickte mit einer Nachdenklichkeit, die alles offenließ.
    Schließlich sagte er: »Man wird nie einen Zeugen haben.«
    »Auch nicht den Jungen?«, fragte er.
    »Nein, das ist ausgeschlossen. Wir müssen mit schwersten Hirnschäden rechnen.«
    Beide schwiegen sie. Sollte er jetzt sagen, was ihm eingefallen war, als er vom Unfallort nach Hause fuhr: dass Karbes Kleidung
     nicht nach einem Rettungsversuch ausgesehen hatte. Aber das war ja nur die Erinnerung an einen nachträglichen Einfall. Beschwören
     konnte er das nicht. Worüber redeten sie überhaupt? Alles waren nur Vermutungen, bloße Beliebigkeiten. Das durfte man nicht
     zum Selbstzweck machen.
    »Kann ich den Jungen sehen?«, fragte er.
    »Selbstverständlich«, sagte Kühne, der anscheinend auch froh war, das Gespräch zu beenden, denn er stand sofort auf.
     
    Im Flur der Intensivstation war keine der roten Alarmleuchten über den Zimmertüren eingeschaltet, und außer einer Putzfrau,
     vermutlich eine Türkin, die die Linoleumfliesen mit der üblichen Desinfektionslösung wischte, war niemand zu sehen. Seitlich
     an der |50| Wand standen zwei abgezogene Krankenbetten wie leere Karren auf einem Gepäckbahnsteig. Die Putzfrau unterbrach ihre Arbeit,
     zog den Schrubber mit dem umgelegten Wischtuch an sich heran und ließ sie vorbei.
    »Danke«, sagte Dr. Kühne.
    Das Licht aus dem hinteren Flurfenster legte eine matte Glanzspur über den Flurboden, der frisch nach Lysol oder etwas Ähnlichem
     roch. Es war der Grundgeruch des Krankenhauses, an den er sich nicht gewöhnen konnte. Hinter der breiten Glasscheibe, die
     das Dienstzimmer der Station vom Flur trennte, saß eine ältere Krankenschwester und studierte eine Akte. Sie blickte kurz
     auf, als sie vorbeikamen, und wandte sich wieder ihrer Arbeit zu.
    »So, hier sind wir«, sagte Dr. Kühne und wies auf eine Zimmertür. »Wir haben den Jungen in ein Einzelzimmer gelegt. Nicht
     seinetwegen – er merkt nichts von seiner Umgebung. Aber für die anderen Patienten ist ein solcher Fall doch ziemlich bedrückend.«
    Schon als sie den Vorraum betraten, der ohne Zwischentür in das Krankenzimmer überging, hörte er das leise Doppelgeräusch
     der Beatmungsmaschine, einen seufzenden Sog und ein gleichmäßiges Blasen. Es klang fremdartig in seiner Regelmäßigkeit, sodass
     er sich im ersten Augenblick wie ein unfreiwilliger Zeuge eines unheimlichen und intimen Vorgangs fühlte und zögerte. Dr.
     Kühne forderte ihn auf, wegen der strengen Hygienevorschriften einen der blauen Kittel überzuziehen, die auf einem kleinen
     Tisch für Besucher |51| bereitlagen, und ging dann mit ihm nach nebenan.
    Der Junge, dessen Kopf rundum bandagiert war, lag mit offenen, blicklosen Augen auf dem Rücken, wie gefesselt und unterworfen
     von einem blauen Plastikschlauch, der von einem neben dem Bett stehenden

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