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Der Himmel ist kein Ort

Der Himmel ist kein Ort

Titel: Der Himmel ist kein Ort Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dieter Wellershoff
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hatte. Am |45| Eingang der Intensivstation wurde er von dem diensttuenden Arzt Dr. Kühne empfangen, einem dünnen, etwas vorgebeugt gehenden,
     blonden Mann, den er von seinen regelmäßigen Krankenbesuchen gut kannte und bei dem er sich telefonisch angesagt hatte. Sie
     gingen zuerst ins Arztzimmer, wo Kühne ihn über die aktuelle Situation unterrichtete.
    Der Junge lag im Wachkoma und wurde künstlich beatmet. Offenbar hatte er in einer Luftblase im Heck des Autos noch längere
     Zeit atmen können, aber die Hirnschäden schienen wegen des langen Sauerstoffmangels beträchtlich zu sein. Genaueres konnte
     man erst in einigen Tagen sagen. Der Leichnam der Mutter sollte morgen oder übermorgen obduziert werden. Sie war gestern schon
     tot eingeliefert worden. Karbe war nach seiner Entlassung am Vormittag nicht wieder im Krankenhaus erschienen und hatte sich
     auch telefonisch nicht gemeldet. Der Alkoholtest hatte keine relevanten Ergebnisse gebracht, und sein Kreislauf war stabil
     gewesen. Man hatte ihn natürlich sediert und die Nacht über unter Beobachtung gehalten, aber es wäre vielleicht gar nicht
     nötig gewesen. Vom Verhalten her war er nicht auffällig, außer dass er kaum etwas gesagt hatte. Das Protokoll seiner Aussagen,
     das die Polizei aufgenommen hatte, war anscheinend auch unergiebig gewesen, wie einer der Polizeibeamten seinen Kollegen Dr.
     Reichel habe wissen lassen, der als Notarzt am Unfallort gewesen war. Natürlich konnte man die Unergiebigkeit von Karbes Aussagen
     auch mit Gedächtnisausfällen erklären. Das sei bei Schockzuständen normal.
    |46| Aber nicht normal war vielleicht dieser Unfall selbst, sofern Unfälle überhaupt jemals normal waren. Dieser hier war in hohem
     Grade unwahrscheinlich. Karbe kannte schließlich die Strecke. Er war sie fast täglich gefahren, bei Tag und bei Nacht.
    »Ja, es war seine Pendlerstrecke.«
    »Was die Kurven angeht, eigentlich eine harmlose Strecke.«
    »Stimmt. Ich bin sie gerade wieder gefahren und habe mich auch gefragt, wie das passieren konnte.«
    »Falls man nicht total betrunken ist oder einen Infarkt hat, kommt man auf einer so vertrauten Strecke doch nicht plötzlich
     von der Straße ab und fährt die Karre in den See.«
    War hier im Krankenhaus ein Vorurteil gegen Karbe entstanden? Er musste wohl sehr unsympathisch und undurchschaubar gewirkt
     haben. Jedenfalls hatte er kein Mitleid erregt. Oder war das nur ein Gedankenspiel von Dr. Kühne, der Karbe überhaupt nicht
     gesehen hatte? Und war er es nicht selbst gewesen, der Kühne angeregt hatte, einen solchen schrecklichen Verdacht anzudeuten?
    »Sie meinen also«, fragte er, »ohne ein Motiv oder eine besondere Beeinträchtigung des Fahrers sei der Unfall nicht zu erklären?«
    »Das will ich so nicht behaupten. Aber das Ganze ist eben reichlich obskur.«
    »Wenn Sie mir erlauben, noch einen Augenblick bei dieser Vermutung zu bleiben: Kann man denn vernünftigerweise annehmen, dass
     jemand, der einen solchen Unfall, aus welchen Gründen auch immer, |47| plant, sich dafür so unglaubwürdige Umstände aussucht?«
    »Was heißt hier unglaubwürdig?«, sagte Kühne. »Das Unglaubwürdige ist manchmal das Wirkliche. Es könnte sogar das kalkulierte
     Alibi eines Täters sein.«
    »Eine unglaubwürdige Tat zu planen?«
    »Ja, genau. Etwas, das niemand für wahrscheinlich hält.«
    »Jetzt geraten Sie aber in den Kriminalroman.«
    »Das gebe ich zu. Ich bin süchtiger Krimileser. Eigentlich wollte ich etwas anderes sagen. Das genaue Gegenteil.«
    »Was meinen Sie damit?«
    »Es kann ja auch ein spontaner Entschluss gewesen sein. Oder auch nur ein Blackout. Vielleicht aus einem Streit heraus. Eine
     sekundenschnelle Reaktion nach langen zermürbenden Auseinandersetzungen.«
    Es entstand eine Pause, so als erwögen sie beide diese Möglichkeit.
    Er sah es vor sich: zwei Hände, die mit einem Ruck das Lenkrad herumrissen, und den Wagen, der in der Dunkelheit die Böschung
     hinabschoss, begleitet von Schreien aus seinem Innenraum. Wie bei einem Filmstreifen, den man zum zweiten Mal abspult, um
     einzelne Momente des Vorgangs zu betrachten, versuchte er das Vorstellungsbild schärfer einzustellen.
    Bockte und sprang der Wagen über Unebenheiten hinweg? Schlugen die Insassen mit den Köpfen gegen die Decke und die Seitenholme?
     War die Frau ohnmächtig oder sekundenlang betäubt? Sprang die |48| Tür auf der Fahrerseite auf? Oder wurde sie von innen aufgestoßen? Er starrte noch auf diese

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