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Der hinkende Rhythmus

Der hinkende Rhythmus

Titel: Der hinkende Rhythmus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gaye Boralıoğlu
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… da können wir doch so viel rennen und auf dem Boden herumtollen, Mensch!«
    Yunus’ Augen glichen einem Blumenbeet. Er fasste Mut und umarmte Güldane. Er lehnte seinen Kopf an ihre Brust. Zu sich sagte er: »Ich würde am liebsten mein ganzes Leben so bleiben«, sprach es aber nicht laut aus. Trotzdem löste er sich nicht von ihr. Schließlich schubste sie ihn weg.
    »Los«, sagte sie. »Du hast genug geklebt, hol uns Nudeln vom Krämer. Ich hab Hunger.«
    Yunus rannte hinaus, um Nudeln zu kaufen, und Güldane setzte sich ans Fenster. Ihr schien, als hätte Betoncevdet sein Haupt ein wenig gesenkt. Wusste er etwa, dass seine Frau geheiratet hatte?
    Güldane hauchte die Scheibe an. Eine kleine Fläche auf Cevdet beschlug. Sie zeichnete mit dem Zeigefinger ein Herz. In die eine Hälfte schrieb sie ein G, in die andere ein H.
    Wie viel Zeit war vergangen, seitdem sie Halil gesagt hatte: »Komm mit«? Sie hatte nichts mehr von ihm gehört. Wollte er etwa nicht? Eine riesige, finstere Melancholie setzte sich auf ihr Gemüt. Sie wollte, dass er kam, sie wollte von hier fort. Sie wollte neben ihm sein, neben diesem Fragezeichen, das mit seinem Erscheinen Güldane in einen kochenden Vulkan verwandelte und mit seinem Verschwinden einen Eisklumpen aus ihr machte, das ständig und ewig ihren Kopf, ihren Bauch beschäftigte. Ohne sich zu fragen, wohin der Weg mit ihm führen würde, brannte es in ihr, diesen Weg zu gehen. Es brannte!
    Bald kam Yunus wieder zurück. Aber anders, als er gegangen war. Sein Gesicht strahlte nicht mehr, seine Augen waren feucht. Die Nudeltüte, die er in der Hand hielt, schleuderte er gegen die Wand, der Inhalt verteilte sich überall im Zimmer. Noch bevor Güldane fragen konnte, was geschehen war, zählte er alle Schimpfworte auf, die er kannte, von den gröbsten bis zu den feinsten. Er fügte sogar völlig unpassende Wörter zusammen und erfand somit neue Schmähungen, die noch kein Mensch gehört hatte. Er reihte die wüstesten Ausdrücke aneinander, um eine dritte Person Singular fertigzumachen. Er streute auch Drohungen dazwischen. Seine Wut schäumte so hoch, dass sogar Güldane sich davor hütete, den Mund aufzumachen. Etwas überrascht und ein wenig besorgt beobachtete sie aus sicherer Entfernung Yunus, der sich in einen Feuerball verwandelt hatte und überallhin geschleudert wurde.
    Irgendwann beruhigte er sich. Dann zog ihm Güldane alles, was geschehen war, Wort für Wort aus der Nase. Sie erfuhr von einem Jungen, der neu ins Viertel gekommen war. Merdan hieß er. Dieser Junge war eigentlich fast im gleichen Alter wie Yunus. Vielleicht ein Jahr älter, höchstens zwei. Die letzten paar Male hatte ihn Yunus bei den Vorführungen im Publikum gesehen. Eben dieser Junge war jetzt da, als Yunus den Laden betrat. Er kaufte die Nudeln, ging wieder hinaus, und der Junge ihm hinterher. Erst tat dieser Merdan, als wollte er mit ihm Freundschaft schließen, und kam dann nach einigen Schlenkern auf Güldane zu sprechen.
    Auf fast jedes Wort, das Yunus sagte, folgte entweder eine Träne oder ein Fluch. Er zog immer wieder die Nase hoch, während er erzählte.
    Dieser Junge fragt also nach Güldanes Alter, fragt, wo kommt ihr her, wann seid ihr hergezogen und ähnliches Zeug. Dann fragt er, was hat das Mädchen für eine Beziehung zu dir? Yunus sagt, sie ist meine Schwester. Dann wirst eben du die Sache einfädeln, sagt er. Was für eine Sache, fragt Yunus, weil er es wirklich nicht verstanden hat. Du wirst das Mädchen zu mir bringen, ich zahle, egal was es kostet, sagt der Junge. Und als Yunus dann fragt, warum soll ich sie denn zu dir bringen …
    Yunus konnte nicht weiter. Tränen erstickten seine Stimme, er bekam keine Luft. Güldanes smaragdgrüne Augen wurden pechschwarz, ein unergründlicher Schatten fiel auf ihr Gesicht.
    »Weine nicht«, sagte sie. »Du wirst nicht weinen. Du wirst schweigen. Egal was die sagen, du wirst schweigen. Wir haben hier zu tun. Wir werden unsere Arbeit beenden und dann gehen wir von hier fort. Hast du verstanden?«

    Es war vor ein paar Tagen, da rief der Chef des Taxistands Halil zu sich. Einleitend sang er eine kurze Lobeshymne auf ihn, schwärmte von Halils Aufrichtigkeit, Ruhe, Schweigsamkeit und Höflichkeit. Doch nach einem sehr ausgedehnten »Aaaberrr« hieß es, er habe sich in letzter Zeit sehr verändert. Die Beträge auf dem Taxameter und das Geld, das er verlangte, stimmten nicht überein. Klagen von Kunden häuften sich. Fahrgäste riefen an und

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