Der hinkende Rhythmus
Halils Herz in seinen Rachen hinauf, aber er schluckte und unterdrückte ihn. Seine Stimme erinnerte an das Röcheln eines Sterbenden.
»Ruiniert hast du. Du hast alles ruiniert.«
Die Tränen, die Halil loswerden wollte, vergoss jetzt seine Mutter. Sie flossen in Strömen hinunter. Aber sie klang lebhaft:
»Habe ich nicht. Ich hab nichts getan. Dein Vater war es. Er hat unser Leben ruiniert.«
Halil schwieg.
»Er prügelte mich. Weißt du das nicht? Er schlug mir immer ins Gesicht. Immer ins Gesicht.«
Halils Stimme kam aus den Tiefen eines Grabes.
»Du hast ihn wahnsinnig gemacht.«
Die Frau antwortete entschieden, kämpferisch:
»Nichts hab ich gemacht. Ich wollte immer das Beste für euch. Für euch beide wollte ich immer das Beste. Ich wollte eine schöne Familie. Aber ihr zwei … habt mich immer gequält. Ihr habt mich ruiniert, mein Leben ruiniert.«
Als würde er seinen letzten Atem ausstoßen, sagte Halil:
»Du hast ihn umgebracht.«
Sie fuhr erschrocken auf.
»Was? Was soll das jetzt? Was redest du da?«
»Ich hab’s gesehen. Du hast meinen Vater umgebracht.«
»Du spinnst. Du träumst und spinnst. Wach endlich auf. Ich hab keine Lust mehr. Komm, wach auf.«
»Ich war da.«
Für einen Moment zeichnete sich in ihrem Gesicht der Schrecken davor ab, nicht die Einzige zu sein, die die Wahrheit kannte.
»Du warst in der Schule an diesem Tag. Du warst in der Schule.«
Halil schüttelte den Kopf.
»Ich bin früher zurückgekommen. Ich war da. Unter dem Bett.«
Ein gewaltiges Zittern erfasste die Stimme der Frau. Ihr Gesicht wurde leichenblass.
»Das stimmt nicht. Du hast es falsch gesehen. An diesem Tag hat mich dein Vater geprügelt. Ja, dein Vater hat mich geprügelt. Fast hätte er mich umgebracht. Du hast es falsch gesehen. Du irrst dich. Dein Kopf ist durcheinander. Deswegen redest du jetzt so. Du bringst alles durcheinander.«
Halil knirschte mit den Zähnen.
»Du hast das Feuer angezündet. Es war kein Kurzschluss. Du hast Benzin über meinen Vater geschüttet.«
Das erschrockene Gesicht der Frau spannte sich an, wurde größer und größer …
»Du …«, sagte sie, »du warst draußen!«
Halil ließ seine Tränen in sich hinein fließen. Wie sein Vater lichterloh nach rechts und links schwankte, wie die Flammen auf die Vorhänge, auf die Teppiche übersprangen, wie er selbst im letzten Augenblick unter dem Sofa hervorkroch und durch die Hintertür flüchtete, erzählte er nicht. Länger würde er es nicht mehr aushalten. Er fasste die Frau am Arm.
»Gut, jetzt geh endlich, Mutter. Geh weg und komm nicht mehr her. Es ist aus. Hast du verstanden? Bis hierher und nicht weiter. Geh.«
»Wohin? Wohin kann ich gehen? Verlass mich nicht! Halil, mein Sohn! Verlass mich nicht!«
Halil zog sie zum Fenster.
»Machst du das alles wegen dieser dreckigen Zigeunerin? Sagst du mir deswegen Geh? Für diesen Zigeunerbastard … für diese Schlampe, nicht wahr? Du weißt es, nicht wahr? Sie ist eine Schlampe … Schlampe … sie wird dich ruinieren … du wirst zugrunde gehen.«
Doch Halil hörte ihr nicht mehr zu. All ihr Kämpfen, all ihr Zappeln war umsonst. Er schleppte sie ans Fenster und öffnete es.
»Bis hierher«, sagte er. Dann schleuderte er die unförmige Masse, zu der sich die Frau verwandelt hatte, hinaus.
Halils Mutter fiel langsam hinunter. Je weiter sie fiel, umso mehr schrumpfte sie. Schließlich, bevor sie den Boden berührte, wurde sie zu einer weißen Feder. Der Wind blies sie in die Höhe und trieb sie vor sich her. Die weiße Feder flog eine Weile mal auf-, mal absteigend zwischen den Häusern. Dann verschwand sie ganz aus seinem Blick.
Halil wachte schweißgebadet auf, so, als hätte er gerade einen Marathonlauf beendet. Er atmete mit Mühe. Trotzdem spürte er eine große innere Entspannung. Er hatte sich von einer Last befreit, die er seit Jahren mit sich geschleppt hatte, er war erleichtert. Er wusch sich das Gesicht, trank einen Kaffee und fühlte sich noch wohler. Wie so oft in letzter Zeit dachte er wieder an Güldane. Er malte sich die Reise mit ihr aus, die Orte, an die sie fahren, das Haus, in dem sie leben würden.
Auch während er in seinem Taxi Istanbul von Nord nach Süd, von Ost nach West durchquerte, dachte er an nichts anderes. Von Güldane zu träumen, schien ihn zu heilen. Seine tausendjährigen Wunden schlossen sich und sein Denken, in letzter Zeit ein einziges Chaos, begann sich zu ordnen.
Er bremste für alle ab, die ihn heranwinkten, und
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