Der hinkende Rhythmus
Würmer, die Yunus sammelte, um ihren Bauch zu schützen. Bald aber sah sie ein, dass ihre Mühe vergeblich war. Sie gab auf, gegen die Hiebe anzukämpfen, und versuchte, vor den Schmerzen, die man ihr zufügte, ihre Ohren und ihr Herz zu verschließen. Irgendwann sah sie in der Menge flüchtig den Automechaniker Muharrem und erhoffte sich von ihm Abhilfe. Doch Muharrem blieb einfach stehen und verfolgte Güldanes letzte Show so unbeteiligt, als würde er im Kino sitzen und vor seinen Augen ein Film ablaufen.
Güldane wurde von einem zum anderen und immer wieder zu Boden geschleudert. Yunus hörte ihre Schreie und sie sein Flehen. Der Lärm lockte die Bewohner des Viertels an. Doch niemand brachte den Mut auf, diese beiden verlorenen Menschen in Schutz zu nehmen. Stattdessen fanden seit langem angesammelter Groll und Neid Gelegenheit, aus ihren Nestern herauszukriechen. Mit vereinten Kräften und Wollust plünderten sie das Haus. Alles, worauf sie schon immer neugierig gewesen waren, aber nicht hatten anfassen dürfen, zerschlugen sie. Schließlich fanden sie auch das Geld in der alten Keksdose. Ohne zu zögern, sehr behände, ließen sie die Scheine verschwinden.
Als ihre Taschen gefüllt waren, dämmerte ihnen, dass sie jetzt doch ein wenig müde wurden. Wörter, die sich vor einiger Zeit von ihrem Geist verabschiedet hatten, kehrten langsam zurück: Mädchen … Rechnung … alt … jung … warum … Gewissen … Möglichkeit … Mensch … Tod … Diese Wörter lichteten den Dunst, in den ihr Blick gehüllt war, und da begannen sie, einander zu sehen. Sie empfanden eine stille Scham. Und verstanden, dass sie aufhören mussten.
Sie ließen Güldane wie eine geknickte Rose mitten im Zimmer und Yunus zusammengekrümmt an einer Wand liegen und stahlen sich hinaus. Keiner merkte, dass aus Betoncevdets Augen Tränen flossen.
Bald versank das Viertel in Schweigen. Alle vergaßen, was noch gerade eben geschehen war und schalteten ihre Fernseher ein.
Was lange währt
Die Perlenkette war in Halils Hand zu einer Gebetskette geworden. Er drehte jeden einzelnen Stein zwischen den Fingern und wartete voller Hoffnung und Geduld auf Güldane. Sehr selten verließ er das Haus, und das nur, um Essen zu besorgen. Das erledigte er dann auch so schnell wie möglich und rannte buchstäblich zurück, besorgt, Güldanes Ankunft zu verpassen. Er stand jeden Morgen früh auf und rasierte sich und jeden Abend badete er mit wohlduftenden Seifen. Er achtete darauf, dass die Wohnung immer aufgeräumt war und kein schmutziges Geschirr, keine Essensreste herumlagen. Ohnehin hatte er nicht mehr viel zu Hause. Er hatte sämtlichen Plunder, mit Ausnahme der wenigen Sachen, die er zum Leben brauchte, hinausgeworfen. Alte Fotos, allerlei Gerätschaften zum Muskeltraining, halbkaputte Radios, Kassettenrekorder, Porzellanfiguren von Ballerinen, Katzen und Elefanten, von denen er nicht mehr wusste, wie sie überhaupt in diesen Haushalt gelangt waren, nutzlose Souvenirs … alle waren im Müll gelandet.
Halil hatte sich auch der Kleidung entledigt, die er nicht mehr trug und nicht mitnehmen wollte. Was in einen Koffer passte, würde ihm genügen. Ein Koffer und Güldane und vielleicht auch ihr Bruder … nur sie sollten ihn in sein neues Leben begleiten.
Während dieser Tage klopfte es mehrmals an Halils Tür. Mal kam Güldane allein und mal mit ihrem Bruder. Sie trug ein Kleid mit grünem Blumenmuster oder manchmal mit gelbem. Ihre Haare waren zusammengebunden oder fielen auf ihre Schultern. Einmal lächelte sie, ein andermal vergoss sie Tränen. Aber jedesmal umarmte sie Halil, wenn er die Tür öffnete. Halil bat Güldane – oder eben die beiden – herein. Sie verschnauften ein wenig und erzählten von diesem und jenem. Er holte die Perlenkette heraus und reichte sie Güldane. Sie stieß Freudenschreie aus wie ein Kind und legte die Kette aufgeregt an. Und wie gut sie ihr stand! Grüne Augen, rotes Haar, ein erdfarbener Teint, kleine braune Sommersprossen … es hatte also nur an einer Reihe weißer Perlen an ihrem Hals gefehlt! Halil war stolz auf sich, weil jetzt nichts mehr fehlte. Die beiden Verliebten schauten sich an. Sie sagten sich ohne Worte, dass nun die Zeit gekommen war. Halil flog ins Schlafzimmer und brauchte nur fünf Minuten, um seinen Koffer zu packen. Sie verließen Hand in Hand das Haus.
Wenn er später merkte, dass er nirgendwohin gegangen war, begriff er, dass sich alles nur in seinem Kopf abgespielt hatte, aber er
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