Der hinkende Rhythmus
grämte sich nicht. Wenigstens waren das schöne Trugbilder. Sie spendeten ihm Trost, vertrieben ihm die Zeit. Und so wartete er geduldig weiter.
Irgendwann klingelte es wirklich an der Tür. Am frühen Morgen. Halil war gerade aufgestanden und rasierte sich im Bad. In keinem seiner Wunschträume war Güldane so früh gekommen. Er machte auf.
Das Kind, das vor ihm stand, erkannte er zunächst nicht. Ein Straßenkind, dachte er, die Kleider zerlumpt, das Haar zerzaust, das Gesicht mit Wunden übersät. Bis Yunus das Wort »Güldane« herausbrachte.
Der Anblick des Jungen und die Art, wie er »Güldane« sagte, ließen Halil das Ausmaß der Katastrophe begreifen. Mehr brauchte Yunus nicht zu sagen. Nur dem Wind folgen, der an ihm vorbei und raus aus dem Haus wehte.
Welches schreckliche Erdbeben kann ein Haus dermaßen dem Erdboden gleich machen? Welcher unerbittliche Sturm einen Ort so vollständig ruinieren? Welche Naturgewalt kann so drakonisch sein? Auf keine dieser Fragen, die Halil durch den Kopf gingen, als er Güldanes Haus betrat, gab es eine Antwort.
Kein Möbelstück stand an seinem Platz, die Stoffe, die offenbar auf den Möbeln gelegen hatten, waren mit matschigen Schuhen zertreten. Alle Schubladen waren geleert, das Innere der Schränke nach außen gekehrt. An den Wänden standen, schief und schräg gekritzelt, die unflätigsten Schimpfworte, bespickt mit Wörtern wie Zigeuner, Weib, Hure. Tassen und Gläser, die in den Regalen gestanden hatten, lagen in Scherben überall auf dem Boden zerstreut, Bilder waren mitsamt ihren Nägeln von den Wänden gerissen. Einige Möbelstücke im vorderen Raum hatte man vor die Tür geschmissen, die Speisen aus der Küche ins Zimmer geschleudert. Das Eigelb, das auf dem Fernseher seinen Weg gezeichnet hatte, der Schuhabdruck an der Wand, der halbverzehrte Apfel in dem Sessel erfüllten Halil mit einem tiefen Schmerz.
Gefolgt von Yunus betrat Halil das hintere Zimmer. Da lag Güldane auf dem Boden, ihr Kopf zur Seite geknickt. Von einem Rand ihrer Lippe rann Blut. Ihr Hals und ihr Gesicht waren mit violetten Flecken übersät. Ihre Haare waren strubbelig, ausgerissen. Auf ihrer Haut, die man durch die zerrissenen Kleider sehen konnte, waren Schwellungen und Wunden, die schwach bluteten. So lag sie reglos da.
Halil beugte sich über Güldane, seine Tränen fielen auf ihre Stirn. »Güldane«, sagte er mit gebrochener, untröstlicher Stimme. »Hörst du mich? Güldane …«
Güldanes Schweigen kam beiden lang wie ein ganzes Leben vor. Irgendwann vernahmen sie ein hauchzartes Stöhnen von ihr.
Halil und Yunus atmeten tief auf. Sie sprachen stille Gebete des Dankes.
Halil trocknete seine Tränen. Vorsichtig, als würde er ein verletzliches, noch ganz kleines Baby umarmen, nahm er sie auf die Arme. Er drückte ihren Kopf an seine Brust. Trotz allem hatte sie nichts an ihrem Duft, ihrem unvergleichlichen Wohlgeruch verloren.
Die Perlenkette
Halil trug Güldane bis zu seinem Bett auf den Armen. »Gut, dass ich die Wohnung geputzt und das Bett neu bezogen habe«, sagte er sich. »Ich wusste doch, dass sie kommt!«
Wenn er Güldanes zerschundenen Körper, ihr blau angelaufenes, geschwollenes Gesicht sah, tat es ihm tief im Inneren weh, aber trotzdem war er, weil sie jetzt zusammen waren, beieinander, weil er jetzt Güldane auf seinen Armen trug, von einer eigenartigen Woge der Glückseligkeit erfasst, die ihm die Füße vom Boden hob, ihm das Gefühl gab, in einem Traum zu sein. Dieses Glücksgefühl ließ Halil glauben, Güldane heilen zu können.
Er säuberte ihr Gesicht mit lauwarmem Wasser vom vertrockneten Blut. Auf die Schwellungen legte er mit großer Sorgfalt Eiskompressen. Nach der ersten Reinigung und Pflege rannte er hinaus. Im nächstgelegenen Geschäft kaufte er ein gemütliches Nachthemd, in der Apotheke Wundsalben, Schmerzmittel, Wasserstoffperoxid, Jodtinktur und bei der alten Kräuterfrau einige Packungen Lavendel. Mit keuchendem Atem kam er zurück.
Er zog Güldanes zerfetzte Kleider aus. Als er ihre Wunden säuberte und verband, ihr das neue Nachthemd anzog, die Lavendelblüten auf ihr Bett streute, damit es wohl duftete, kam ihm nicht einen Augenblick in den Sinn, dass Güldane die Frau war, die er wie ein Verrückter begehrt, von der er nächtelang geträumt hatte. Er verrichtete seine Arbeit wie ein Geistlicher, der einen heiligen Auftrag erfüllte, gestaltete seine Zeremonie wie einen Ritus.
Yunus bewegte sich nicht von Güldanes Fußende
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