Neun Zehntel (Deutsch) (German Edition)
Kapitel Eins
Neun Zehntel einer Sekunde sind genug, um einen unwiderruflichen, unverzeihlichen Fehler zu begehen. Der Moment davor und der Moment danach können zu zwei völlig unterschiedlichen Realitäten gehören. Neun Zehntel einer Sekunde können die Welt verändern.
Leonard Tramer wusste dies nur allzu gut. Diese neun Zehntel einer Sekunde verfolgten ihn, all seine Gedanken kreisten darum. Er bestritt nicht, dass seine vorübergehende Unachtsamkeit zweifelsohne unverzeihlich war. Was der alternde Erfinder jedoch nicht akzeptieren konnte, war die Vorstellung, dass sein Fehler unabänderlich war. Schon seit Jahrzehnten probierte Leonard nun herum und versuchte, einen Weg zu finden, den schrecklichen Fehler vom 9. Mai – vor genau einunddreißig Jahren, vier Monaten und zwei Tagen – wieder rückgängig zu machen. Wenn nötig, würde er dies für den Rest seines Lebens versuchen.
Leonard fluchte leise, während er über den Schreibtisch gebeugt saß und vorsichtig mit einer dünnen Lötspitze hantierte. Der Schreibtisch, übersät mit Drähten und Elektronikbauteilen, hatte jahrzehntelange Beschimpfungen, Brandflecken und Lötzinnflecken über sich ergehen lassen müssen. In der Mitte stand ein uralter Computer, der Lüfter ratterte wie aus Protest, und in der Ecke, so weit wie nur möglich von dem Chaos entfernt, befand sich ein relativ neuer Laptop.
„Verdammt.“
Leonard steckte den Lötkolben zurück in den Halter, schob seinen Stuhl vom Schreibtisch und fuhr sich mit einer Hand durch das schütter werdende Haar. Seine Haare waren überwiegend grau, nur eine Spur Braun war noch zu erkennen und die kurzen, losen Locken verteilten sich, als er mit den Fingern hindurchfuhr. Er hatte seit mindestens zwei Tagen nicht mehr geduscht und konnte nur ahnen, wie verwahrlost er aussehen musste. Ein Zweitagebart und ein paar einzelne Sommersprossen hoben die in einundfünfzig Jahren hart erarbeiteten Falten nur noch mehr hervor. Das weite, weiße T–Shirt hatte er halb in die verwaschene Jeans gesteckt und es passte nahezu perfekt zu seinem blassen Hautton. Dennoch verlieh ihm sein mittelgroßes, eckiges Kinn ein gewisses Maß an Würde. Eine Rasur und ein Lächeln würden sein Aussehen wahrscheinlich völlig verändern, aber Körperpflege und andere Bequemlichkeiten standen heute Nachmittag nicht auf seiner Tagesordnung.
Aus den Augenwinkeln sah er Michelle und drehte sich zu ihr um. Sie stand mit einem roten Koffer neben ihren Füßen in der Tür und starrte ihn an. Ihre kurzen, schwarzen Haare verliehen dem langen, dürren Gesicht nicht unbedingt weichere Züge.
„Ich gehe, Leo.“
Leonard starrte die junge Frau mit einem müden, resignierten Ausdruck an. „Okay. Hast du alles?“
„Okay? Ist das alles, was du zu sagen hast? Okay?“
Er zuckte mit den Schultern.
„Ich habe fast ein ganzes Jahr meines Lebens damit verschwendet, dich aus diesem Chaos retten zu wollen.“ Sie gestikulierte durchs Zimmer. Die ungeordnete Ansammlung von Kisten, zerlegten Elektrogeräten und mit Eselsohren versehenen Büchern sprachen Bände. Ein abgenutzter Sessel in der Ecke ließ darauf schließen, dass Leonard das Zimmer selten verließ und sich nur zwischen den Phasen manischer Arbeitsanfälle, die wenigstens ab und zu etwas Geld einbrachten, und gelegentlicher Kreativitätsausbrüche, die seine Besessenheit schürten, etwas Schlaf gönnte.
„Ich habe nicht um Rettung gebeten.“
„Du gehst völlig ein bei all diesem MacGyver–trifft–Flash–Gordon–Schwachsinn. Du hattest so viel Potenzial.“
„MacGyver trifft den Zeitreisenden.“
„Was?“
„MacGyver trifft den Zeitreisenden aus Die Zeitmaschine von H.G. Wells. Das wäre eine bessere Analogie.“
„Was auch immer.“
„Ich mein ja nur—“
„Der Junge ist tot, Leo. Du wirst ihn mit diesem Wahnsinn nie wieder zurückbringen können. Er. Ist. Tot.“
Leonard sprang auf, durchquerte den Raum und blieb nur einige Zentimeter vor ihr stehen. Sie verzog das Gesicht und ging einen Schritt zurück.
„Tommy Richardson!“, schrie er, „Er ist nicht einfach nur der Junge . Sein Name ist Tommy Richardson. Und ich werde ihn retten, auch wenn ich dafür mein ganzes Leben opfern muss.“
Michelle verschränkte die Arme und in ihren Augen waren nun Tränen zu sehen. „Du hast dein Leben schon dafür geopfert, Leo. Siehst du das nicht? Stell dir doch nur mal vor, was du alles hättest erreichen können, wenn du nicht so besessen von dieser
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