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Der Historiker

Der Historiker

Titel: Der Historiker Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elizabeth Kostova
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kennst.‹
    ›Drei Jahre‹, sagte ich.
    ›Jetzt‹, sagte Helen, ›werde ich ihr von seinem Verschwinden erzählen.‹ Sanft und wohlüberlegt, nicht so sehr, als spräche sie zu einem Kind, sondern als zwinge sie sich selbst gegen den eigenen Willen zu etwas, sprach Helen zu ihrer Mutter, gestikulierte zwischendurch in meine Richtung, und manchmal malte sie mit den Händen ein Bild in die Luft. Endlich hörte ich das Wort ›Dracula‹, und bei seinem Klang sah ich, wie Helens Mutter bleich wurde und die Tischkante packte. Helen und ich sprangen gleichzeitig auf, und Helen schenkte schnell ein Glas Wasser aus dem Kessel ein, der auf dem Herd stand. Ihre Mutter sagte etwas Schnelles, Hartes. Helen wandte sich zu mir. ›Sie sagt, sie hat immer gewusst, dass es einmal so weit kommen würde.‹
    Ich stand hilflos da, aber als Helens Mutter ein paar Schluck Wasser genommen hatte, schien sie sich wieder etwas zu erholen. Sie blickte auf, nahm zu meiner Überraschung meine Hand, so wie ich noch vor ein paar Minuten ihre hatte nehmen wollen, und zog mich zurück auf meinen Stuhl. Sie hielt meine Hand, zärtlich, einfach, streichelte sie, als wolle sie ein Kind trösten. Ich konnte mir keine Frau bei uns zu Hause vorstellen, die das tat, wenn sie einen Mann zum ersten Mal traf, und doch schien mir nichts natürlicher als das. Jetzt verstand ich, was Helen gemeint hatte, als sie sagte, von diesen beiden Frauen werde ihre Mutter die sein, die ich am meisten mögen würde.
    ›Meine Mutter möchte von dir wissen, ob du ernsthaft glaubst, dass Rossi von Dracula entführt wurde.‹
    Ich atmete tief durch. ›Das tue ich.‹
    ›Und sie möchte wissen, ob du Professor Rossi liebst.‹ Helens Stimme hatte etwas leicht Verächtliches, als sie die Frage weitergab, aber ihre Miene war ernst. Wenn ich ihre Hand mit meiner freien gefahrlos hätte fassen können, ich hätte es getan.
    ›Ich würde mein Leben für ihn geben‹, sagte ich.
    Sie wiederholte meine Antwort für ihre Mutter, die meine Hand plötzlich mit eisernem Griff umschloss. Nicht enden wollende Arbeit hatte diese Hand so stark gemacht. Ich fühlte das Raue der Finger, die Hornhaut in den Handflächen und die geschwollenen Knöchel. Als ich den Blick auf die kräftige kleine Hand senkte, sah ich, dass sie um Jahre älter war als die Frau, der sie gehörte.
    Nach einer Weile ließ Helens Mutter meine Hand los und ging zu der Truhe am Fußende ihres Betts. Sie öffnete sie langsam, schob einiges darin hin und her und holte hervor, was ich gleich auf den ersten Blick als ein Bündel Briefe erkannte. Helens Augen weiteten sich, und sie stellte eine scharfe Frage. Ihre Mutter sagte nichts, kehrte nur schweigend an den Tisch zurück und legte die Briefe in meine Hände.
    Die Briefe waren in Umschlägen ohne Briefmarken, vergilbt und zusammengebunden mit einer abgenutzten roten Kordel. Als sie mir die Briefe gab, schloss Helens Mutter meine Hände fest um die Kordel, als wollte sie mich drängen, das mir so Anvertraute gut zu hegen. Ich sah mit einem Blick auf die Handschrift des ersten Umschlags, dass es Rossis war, und ich sah auch den Namen, an den er adressiert war. Den Namen kannte ich bereits, er wohnte in den Nischen meines Gedächtnisses, und die Adresse lautete: Trinity College, Oxford University, England.«

 
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    Ich fühlte mich tief gerührt, als ich Rossis Briefe in Händen hielt, aber bevor ich weiter über sie nachdenken konnte, musste ich einer Pflicht nachkommen. ›Helen‹, sagte ich und wandte mich ihr zu, ›ich weiß, du hast manchmal gespürt, dass ich Zweifel an der Geschichte deiner Geburt hatte. In bestimmten Momenten war es tatsächlich so. Bitte vergib mir.‹
    ›Ich bin so überrascht wie du‹, antwortete Helen leise. ›Meine Mutter hat mir nie erzählt, dass sie irgendwelche Briefe von Rossi hat. Aber sie sind nicht an sie gerichtet, oder? Wenigstens nicht der oberste.‹
    ›Nein‹, sagte ich. ›Aber ich kenne den Namen. Er war ein großer englischer Literaturhistoriker, der viel über das achtzehnte Jahrhundert veröffentlichte. Als ich im College war, habe ich eines seiner Bücher gelesen, und er kommt auch in Rossis Briefen vor, die er mir gegeben hat.‹
    Helen sah verwirrt aus. ›Aber was hat das mit Rossi und meiner Mutter zu tun?‹
    ›Vielleicht alles. Verstehst du nicht? Es muss Rossis Freund Hedges gewesen sein – den Namen benutzte Rossi für ihn, erinnerst du dich? Rossi muss ihm aus Rumänien geschrieben

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