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Der Historiker

Der Historiker

Titel: Der Historiker Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elizabeth Kostova
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den Blick darauf zu richten.
    ›Tante Éva hat ihr gestern Abend eine Nachricht geschickt‹, sagte Helen ruhig und reichte mir die Marmelade.
    Im Norden der Stadt stiegen wir in den Bus, und wie Helen vorhergesagt hatte, wand er sich langsam durch die Vororte, erst durch Wohngebiete, die sehr unter dem Krieg gelitten hatten, dann durch Komplexe neuer hoher Gebäude, die wie weiße Grabsteine für Riesen in den Himmel ragten. Das war der kommunistische Fortschritt, über den in der westlichen Presse so viel und so feindselig berichtet wurde, dachte ich – das Zusammenpferchen von Millionen von Menschen in sterilen Hochhäusern überall in Osteuropa. Der Bus hielt an einigen dieser Komplexe, und ich fragte mich, wie steril sie wirklich waren. An ihrem Fuß lagen einladende Gärten voller Gemüse und Kräuter, hellbunter Blumen und Schmetterlinge. Auf einer Bank vor einem der Kästen, ganz in der Nähe der Bushaltestelle, saßen zwei alte Männer in weißen Hemden und dunklen Westen und spielten ein Brettspiel. Was, das konnte ich aus der Entfernung nicht erkennen. Einige Frauen in leuchtend bestickten Blusen stiegen in den Bus – war das ihr Sonntagsputz? –, und eine hatte einen Käfig mit einer lebenden Henne dabei. Der Fahrer winkte die Frau mit dem Huhn wie alle anderen herein, und sie setzte sich ganz nach hinten und holte ihr Strickzeug heraus.
    Allmählich ließen wir die Vororte hinter uns, und bald rumpelte der Bus über eine Landstraße, von der aus ich auf fruchtbare Felder und staubige Abzweigungen sah. Manchmal kamen wir an einem Pferdekarren vorbei, der wie ein Korb aus Ästen geflochten war, der Bauer mit schwarzem Hut und Weste. Selten sahen wir auch ein Auto, lauter Modelle, die in den Vereinigten Staaten in ein Museum gekommen wären. Das Land wirkte wunderbar grün und frisch, und gelbblättrige Weiden hingen über kleine Flüsse und Bäche, die sich durch Felder und Wiesen schlängelten. Hin und wieder kamen wir durch ein Dorf; manchmal konnte ich zwischen den Kirchtürmen auch die eine oder andere Zwiebelkuppel einer orthodoxen Kirche entdecken. Helen beugte sich über mich, um ebenfalls hinauszusehen. ›Wenn wir auf dieser Straße blieben, kämen wir nach Esztergom, dem ersten Herrschersitz der ungarischen Könige. Das wäre den Besuch absolut wert. Wenn wir doch nur mehr Zeit hätten.‹
    ›Beim nächsten Mal‹, sagte ich, ohne es mir selbst zu glauben. ›Warum wohnt deine Mutter eigentlich hier draußen?‹
    ›Oh, das war, als ich noch zur Schule ging. Sie zog her, um näher bei den Bergen zu sein. Ich wollte nicht mit ihr mit, also blieb ich in Budapest bei Éva. Meine Mutter hat die Stadt nie gemocht, und sie sagt, dass die Börzsöny-Berge nördlich von hier sie an Transsilvanien erinnern. Sie geht jeden Sonntag mit einem Verein dort wandern, es sei denn, es liegt zu viel Schnee.‹
    Das war ein weiteres kleines Mosaiksteinchen in dem Bild, das ich mir im Geiste von Helens Mutter machte. ›Warum ist sie dann nicht gleich in die Berge gezogen?‹
    ›Da gibt es keine Arbeit, das ist weitgehend ein Naturpark. Im Übrigen hätte meine Tante es ihr verboten, und Éva kann nun mal sehr stur sein. Sie denkt, meine Mutter habe sich auch so schon genug isoliert.‹
    ›Wo arbeitet deine Mutter?‹ Ich sah hinaus zu einer Bushaltestelle. Die einzige Person, die dort stand, war eine alte Frau, die ganz in Schwarz gekleidet war, mit einem schwarzen Kopftuch und einem Strauß roter und rosafarbener Blumen in der Hand. Sie stieg weder in den Bus, als wir anhielten, noch begrüßte sie jemanden, der ausstieg. Als wir davonfuhren, konnte ich sehen, wie sie uns hinterherstarrte, den Strauß in der Hand.
    ›Sie arbeitet in dem kleinen Kulturzentrum des Dorfes, macht die Ablage, tippt ein bisschen und kocht Kaffee, wenn einer der Bürgermeister aus den größeren Orten hereinschaut. Ich sage ihr immer, dass die Arbeit für jemanden, der so intelligent ist wie sie, entwürdigend ist, aber sie zuckt darauf nur mit den Schultern und macht weiter wie vorher. Meine Mutter hat es sich zum Ziel gesetzt, einfach zu bleiben.‹ In Helens Stimme klang etwas Bitterkeit mit, und ich fragte mich, ob sie glaubte, dass diese Einfachheit nicht nur das Leben der Mutter, sondern auch die Möglichkeiten der Tochter eingeschränkt hatte. Aber schließlich waren ihr die von Tante Éva im Überfluss geboten worden. Helen lächelte ihr trauriges, kühles Lächeln. ›Du wirst es selbst sehen.‹
    Der Name des Orts, in

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