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Der Historiker

Der Historiker

Titel: Der Historiker Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elizabeth Kostova
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hatte, erinnerte mich an die winzige Münze, die mir die alte Frau gegeben hatte, und ich fühlte mich voller Schuld, dass ich etwas besaß, was ich meinem Vater hätte geben sollen. Aber eine Art Rebellion baute sich in mir auf, und ich dachte, ich sollte meine Münze dem gut aussehenden Fremden geben, da er in der Burg nach dem Schatz suchte. Als sich die Gelegenheit bot, holte ich die Münze aus ihrem Versteck und knotete sie in ein Tuch, das ich mir an die Schürze band.
    Zwei Tage lang erschien der Fremde nicht wieder, und dann sah ich ihn allein am selben Tisch der Taverne sitzen. Er wirkte sehr müde, und seine Kleider waren schmutzig und zerrissen. Meine Freundinnen sagten, dass der Zigeuner aus der Stadt wieder abgereist und der Fremde allein sei. Keiner wusste, warum er noch bleiben wollte. Er hatte seinen Hut abgesetzt, und ich konnte sein verstruweltes hellbraunes Haar sehen. Ein paar andere Männer gesellten sich zu ihm, und sie tranken etwas zusammen. Ich traute mich nicht, näher zu kommen oder etwas zu sagen, weil diese Männer bei ihm waren, also blieb ich eine Weile in der Nähe und sprach mit einer Freundin. Während wir uns unterhielten, stand der Fremde auf und ging in die Taverne hinein.
    Ich war sehr traurig und dachte, es wäre unmöglich für mich, ihm die Münze zu geben. Aber am Abend hatte ich Glück. Gerade als ich von Vaters Feld kam, wo ich gearbeitet hatte, während meine Schwestern und Brüder andere Aufgaben erledigten, sah ich, wie der Fremde ganz allein am Waldrand entlangspazierte. Er ging den Pfad zum Fluss hinunter, hielt den Kopf gesenkt und die Hände hinter dem Rücken verschränkt. Er war allein, aber jetzt, wo ich die Möglichkeit hatte, mit ihm zu sprechen, hatte ich Angst. Um mir Mut zu machen, packte ich den Knoten in meinem Tuch, in dem die Münze versteckt war, und ging auf ihn zu. Ich blieb auf dem Pfad stehen und wartete, dass er herankam.
    Es schien ewig zu dauern, so lange stand ich dort und wartete.
    Er kann mich nicht bemerkt haben, bis wir uns fast Auge in Auge gegenüberstanden. Dann blickte er plötzlich vom Pfad auf und sah sehr überrascht aus. Er nahm den Hut ab und trat zur Seite, als wolle er mich durchlassen, aber ich blieb still stehen, raffte meinen Mut zusammen und sagte Hallo. Er verbeugte sich leicht und lächelte, und wir sahen einander eine Weile lang an. Nichts an seinem Ausdruck oder seiner Art machte mir Angst, aber ich verging fast vor Scham.
    Bevor ich auch noch den letzten Mut verlor, knotete ich mein Tuch vom Gürtel los und holte meine Münze hervor. Ich gab sie ihm schweigend, und er nahm sie aus meiner Hand, drehte sie um und betrachtete sie sorgfältig. Plötzlich ging ein Leuchten über sein Gesicht, und er sah mich wieder an, sehr eindringlich, als könnte er mir so bis ins Herz sehen. Er hatte die hellsten, blausten Augen, die man sich vorstellen kann. Ich zitterte am ganzen Leib. De unde?, fragte er. Woher? Er gestikulierte, um sich verständlich zu machen. Ich war überrascht, dass er offenbar ein paar Worte in unserer Sprache kannte. Er tappte auf den Boden, und ich verstand. Hatte ich die Münze ausgegraben? Ich schüttelte den Kopf. De unde?
    Ich versuchte, ihm eine alte Frau vorzumachen, legte das Tuch um den Kopf und bückte mich auf einen Stock. Ich zeigte, wie sie mir die Münze gab. Er nickte und runzelte die Stirn. Er machte Gesten für die alte Frau und deutete den Weg in unser Dorf entlang. Von da? Nein, wieder schüttelte ich den Kopf und zeigte flussaufwärts und in den Himmel hinauf, wo ich die Burg vermutete und auch das Dorf der alten Frau. Ich deutete auf ihn und zeigte auf gehende Füße – dort hinauf! Das Leuchten kam zurück auf sein Gesicht, und er schloss die Hand um die Münze. Dann gab er sie mir zurück, aber ich lehnte sie ab, deutete wieder auf ihn und spürte, wie ich rot wurde. Er lächelte, zum ersten Mal, und verbeugte sich vor mir, und ich hatte das Gefühl, der Himmel habe sich einen Moment lang vor mir aufgetan. Multumesc, sagte er. Danke.
    Dann wollte ich wegeilen, bevor mich mein Vater am Abendbrottisch vermissen würde, aber der Fremde hielt mich mit einer schnellen Bewegung auf. Er zeigte auf sich. Ma num esc Bartolomeo Rossi, sagte er. Er wiederholte es und schrieb es schließlich auch noch auf den Boden zu unseren Füßen. Ich musste lachen, als ich versuchte, seinen Namen auszusprechen. Dann zeigte er auf mich. Voi?, sagte er. Wie heißen Sie? Ich sagte es ihm, und er wiederholte es und

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