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Der Historiker

Der Historiker

Titel: Der Historiker Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elizabeth Kostova
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haben, obwohl das nicht erklärt, warum diese Briefe im Besitz deiner Mutter sind.‹
    Helens Mutter saß mit gefalteten Händen da und sah mit einem Ausdruck großer Geduld zwischen uns hin und her, dennoch glaubte ich, eine leichte Erregung auf ihrem Gesicht erkennen zu können. Dann sprach sie, und Helen dolmetschte für mich. ›Sie sagt, sie will dir ihre ganze Geschichte erzählen.‹ Helens Stimme klang erstickt, und ich hielt den Atem an.
    Es war eine langwierige Angelegenheit; die Mutter sprach langsam, und Helen übersetzte, wobei sie ab und zu innehielt, um ihrer eigenen Überraschung Ausdruck zu verleihen. Offenbar hatte auch Helen bislang nur die groben Umrisse der Geschichte gekannt, und sie erschreckte sie. Als wir spätabends wieder ins Hotel kamen, schrieb ich alles aus dem Gedächtnis auf, so gut ich konnte. Es kostete mich fast die ganze Nacht, wie ich mich erinnere. Zwischendurch hatten sich viele andere seltsame Dinge ereignet, und ich hätte müde sein sollen, aber ich kann mich gut erinnern, dass ich alle Einzelheiten mit einer Art hochgestimmter Sorgfalt niederschrieb.
     
     
    ›Als Kind lebte ich in dem winzigen Dorf P. in Transsilvanien, ganz in der Nähe vom Fluss Arges. Ich hatte viele Brüder und Schwestern, von denen die meisten immer noch dort leben. Mein Vater erzählte immer, dass wir von alten, vornehmen Familien abstammten, dass meine Vorfahren aber harte Zeiten hatten durchmachen müssen, und so wuchs ich ohne Schuhe oder warme Decken auf. Es war eine arme Gegend, und die Einzigen, denen es gut ging, waren ein paar ungarische Familien, die in ihren großen Villen unten am Fluss lebten. Mein Vater war schrecklich streng, und wir alle fürchteten uns vor seinen Schlägen. Meine Mutter war oft krank. Ich selbst arbeitete schon als kleines Mädchen auf unserem Feld außerhalb des Dorfes. Manchmal brachte uns der Pfarrer Essen oder andere Hilfen, aber normalerweise mussten wir sehen, wie wir allein durchkamen.
    Als ich achtzehn war, kam eine alte Frau aus einem Dorf über dem Fluss oben in den Bergen zu uns. Sie war eine vracra, eine Heilerin, die besondere Kräfte hatte und in die Zukunft sehen konnte. Sie erklärte meinem Vater, sie habe ein Geschenk für ihn und die Kinder: dass sie von unserer Familie gehört habe und ihm etwas Magisches geben wolle, dessen rechtmäßiger Besitzer er sei. Mein Vater war ein ungeduldiger Mann und hatte keine Zeit für abergläubische alte Frauen, obwohl er selbst alle Öffnungen unserer Hütte regelmäßig mit Knoblauch einrieb, um Vampire abzuhalten – den Kamin und den Türrahmen, das Schlüsselloch und die Fenster. Er schickte die alte Frau unhöflich weg und sagte, er habe kein Geld, was auch immer sie ihm verkaufen wolle. Als ich später zum Dorfbrunnen ging, um Wasser zu holen, sah ich die Frau dort stehen, und ich gab ihr zu trinken und etwas Brot. Sie segnete mich und sagte, ich sei freundlicher als mein Vater und dass sie meine Großzügigkeit belohnen werde. Dann nahm sie eine winzige Münze aus einer Tasche, die ihr um die Hüften hing, legte sie in meine Hand und sagte mir, ich solle sie verstecken und sicher aufbewahren, weil sie unserer Familie gehöre. Sie sagte auch noch, dass die Münze aus einem Schloss hoch über dem Arges stamme.
    Ich wusste, ich sollte die Münze meinem Vater zeigen, tat es aber nicht, weil ich dachte, er würde böse auf mich sein, weil ich mit der alten Hexe gesprochen hatte. Stattdessen versteckte ich sie unter meiner Ecke des Betts, das ich mit meinen Schwestern teilte, und erzählte niemandem davon. Manchmal, wenn ich glaubte, niemand sehe mich, holte ich sie hervor. Dann hielt ich sie in der Hand und fragte mich, was die alte Frau damit bezweckt hatte, dass sie mir die Münze gab. Auf der einen Seite der Münze war eine seltsame Kreatur mit einem geschwungenen Schwanz abgebildet, auf der anderen ein Vogel und ein winziges Kreuz.
    Ein paar Jahre vergingen, und ich arbeitete weiter auf dem Feld meines Vaters und half der Mutter in der Küche. Mein Vater war verzweifelt, dass er gleich mehrere Töchter hatte: Er sagte, er würde uns nie verheiraten können, weil er zu arm sei, um uns eine Mitgift geben zu können, und dass wir ihm deshalb auf ewig Sorgen bereiten würden. Aber meine Mutter erklärte uns, alle im Dorf hielten uns für so schön, dass uns trotzdem jemand heiraten werde. Ich versuchte meine Kleider sauber zu halten und achtete darauf, dass meine Haare gekämmt und zu ordentlichen Zöpfen

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